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Ein Institut räumt mit den Mythen auf

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Von: Inge Günther

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28. Februar 1947: Menschen fliehen nach einem arabischen Terroranschlag aus der Ben Yehuda Street in Jerusalem. Der Staat Israel begann für alle in Angst und Schrecken.
28. Februar 1947: Menschen fliehen nach einem arabischen Terroranschlag aus der Ben Yehuda Street in Jerusalem. Der Staat Israel begann für alle in Angst und Schrecken. © GPO/afp

Die Forscherinnen und Forscher von Akevot kämpfen um die unbeschönigte, aber heilsame Wahrheit von der Gründung des jüdischen Staates und über das Schicksal der Palästinenser.

Leicht zu finden ist die Adresse in Haifas Hafenviertel nicht. Akevot, ein Institut, das israelisch-palästinensische Konfliktforschung betreibt, hat nicht mal ein Namensschild an der Haustür. Sicherheitshalber hat man auch kein Interesse daran, das zu ändern. Akevot möchte keinen ungebetenen Besuch aus nationalrechten Kreisen, für die die Institutsangehörigen linke „Nestbeschmutzer“ sind. Weil sie beim Stöbern in staatlichen Archiven öfters Dinge zutage fördern, die sich schlecht mit der offiziellen Erzählung vertragen, wonach Israels Streitkräfte seit Staatsgründungszeiten die moralischsten der Welt sind.

Längst hat sich einiges als Mythos entpuppt, was sich um den israelischen Unabhängigkeitskrieg von 1948/49 rankt. Zum Beispiel, dass die Haganah, Miliz-Vorläuferin der Armee, nur zur Selbstverteidigung zu den Waffen gegriffen habe, derweil die arabische Bevölkerung von sich aus, beziehungsweise auf Drängen ihrer Militärs, das Weite gesucht habe.

Tatsächlich gehe aus Dokumenten des israelischen Militärgeheimdienstes von 1948 hervor, so Akevot-Rechercheur Adam Raz, „dass jüdische Kombattanten die Hauptursache der arabischen Vertreibung waren“. 70 Prozent der Bevölkerungsgruppe flohen demnach infolge von Militäroperationen. Nur fünf Prozent räumten das Feld auf Weisung der arabischen Führung. Den über die Jahrzehnte oft angeführten Radioaufruf, die palästinensische Bevölkerung möge das Land verlassen, um im Kampf gegen die Juden nicht im Weg zu stehen, hat es wohl nie gegeben.

Zu dieser Erkenntnis gelangte bereits Benny Morris, als Mitte der 80er-Jahre eine schrittweise Öffnung der Archive begann. Morris war einer der ersten einer neuen Generation in der Geschichtswissenschaft in Israel, die eine zu selbstgefällige Historiografie korrigierten, Sein Buch – „The Birth of the Palestinian Refugee Problem“ – setzte Standards im Nahostkonflikt. Belegt es doch anhand von Niederschriften, dass es eine bewusste ethnische Säuberung ganzer Landstriche gab, wenn auch anscheinend ohne zentralen Befehl „von ganz oben“. In einer späteren Ausgabe bekräftigte Morris die dargelegten Fakten, fügte allerdings hinzu, dass er die Vertreibung von über 700 000 Palästinenser:innen – Al-Nakba genannt – nicht für ein Kriegsverbrechen halte. Der junge Staat Israel mit kaum mehr als einer halben Million jüdischer Einwohner:innen habe keine Alternativen gehabt.

Viele von ihnen hatten selbst Grausamkeiten erlebt, waren knapp dem Holocaust entkommen und in einem Land eingetroffen, in dem sie wieder um ihre Existenz kämpfen mussten. Auch waren die arabischen Alteingesessenen nicht nur Opfer. Zum Teil hatten sich deren Männer bewaffneten Untergrundgruppen angeschlossen oder den Militäreinheiten aus fünf arabischen Staaten, die Israel, kaum dass es seinen Staat ausgerufen hatte, von allen Seiten angriffen.

Akevot knüpft an die „neuen Historiker“ an, freilich mehr aus menschenrechtlicher Warte. „Über Narrative zu reden, ist gut und schön“, meint Institutsleiter Lior Yavne, „aber es geht darum, eine informierte Debatte führen zu können.“ Und dazu gehört eben auch das Unrecht, das Palästinenser:innen angetan wurde. So fanden sich über die Jahre mehr und mehr Hinweise, dass es keine reine Ausnahme war, wenn ganze Dörfer zerstört und deren Einwohnerschaft niedergemetzelt wurden – wie etwa in Deir Yassin am Westrand von Jerusalem, wo die Irgun, eine Abspaltung der Haganah, die bewusst terroristische Akte unternahm, weit über 100 wehrlose Menschen, darunter Frauen und Kinder, töteten. Oder wie in dem Fischerdorf Tantura, wo Frauen und Kinder fliehen durften, aber bis zu 200 Männer exekutiert wurden.

Dass dies dutzendfach – teils in kleinerem Ausmaß, aber auch unter Beteiligung der Haganah – geschah, belegen Briefe und Tagebücher damaliger Soldaten. Sie beschreiben Massenerschießungen und das Sprengen von Bauten, samt den darin eingepferchten Menschen. Ähnliche Schilderungen erreichten auch die Regierung unter Premier David Ben-Gurion. „Im November 1948 türmten sich Zeugenaussagen über Massaker, begangen von der Armee gegen Araber, auf dem Kabinettstisch“, heißt es in einem Investigativ-Report von Adam Raz, der sich auf Sitzungsprotokolle und Zeitzeugen stützt. „Ohne Zweifel“, schreibt Raz, „wusste Israels Führung in Echtzeit von den blutgetränkten Ereignissen, die mit der Eroberung arabischer Dörfer einhergingen.“

Immerhin beklagt sich da dann Haim Moshe Shapira, Minister für Gesundheit und Immigration, im Kabinett seien ja bereits „mehr als einmal“ Vorfälle zur Sprache gekommen, „die selbst in Kriegszeiten verboten sind“. Wer solche Akte begehe, müsse bestraft werden. Shapira macht sich für ein ministerielles Untersuchungskomitee stark, das auch eingesetzt wird, aber keine Befugnisse erhält. Eines der drei Komiteemitglieder beschwert sich später, offenbar wollten „Kreise in der Armee den Regierungsbeschluss sabotieren“. Shapira verweist auf einen Zeugen, bei dessen Anhörung er „vor Scham und Schande“ sein Gesicht bedeckt habe. „Wenn sich nichts ändert, untergraben wir das moralische Fundament unserer Regierung mit den eigenen Händen.“

Am Ende der Debatte erklärt Ben-Gurion das Komitee für aufgelöst, da es seine Aufgabe nicht erfüllt habe. Sein Interesse an Aufklärung bleibt begrenzt. Zumal mit dem palästinensischen Exodus sichergestellt ist, dass der junge israelische Staat eine klare jüdische Mehrheit hat.

Ben-Gurion beauftragt zwar den Generalstaatsanwalt Yaakov-Shimshon Shapira (nicht zu verwechseln mit dem zuvor genannten Minister) zu ermitteln. Die Hauptpunkte aus dem bestellten Report trägt Ben-Gurion später im Kabinett auch vor, aber verbunden mit der Mahnung, man mache es sich zu leicht, „hier am Tisch die Schuld einer kleinen Zahl an Leuten zuzuschieben, die gekämpft haben“.

Was genau in dem Schapira-Report steht, ist nicht bekannt. Die Archivare halten ihn auf Anweisung aus dem Sicherheitsapparat noch immer streng unter Verschluss. Als man vor ein paar Jahren im Staatsarchiv eine Referenz zu den Schapira-Dokumenten entdeckt habe, „wurde sofort dichtgemacht“, berichtet Akevot-Direktor Lior Yavne. „Dabei ist darin nichts, was heute noch Sicherheitsinteressen schaden kann.“ Er jedenfalls konstatiert „eine unverkennbare Tendenz, nichts rauszugeben, was dem Staat Israel unangenehm wäre, wie etwa Kriegsverbrechen“.

Mit rund 300 000 freigegebenen Dokumenten verfügt Akevot eh nur über einen Bruchteil des staatlichen Archivmaterials. Allein das Militär soll zwölf Millionen Akten hüten. Die Archive des Mossad wie auch des Inlandsgeheimdienstes Schin Beth bleiben ohnehin noch für eine Reihe von Jahren komplett verschlossen.

Das palästinensische Wissen um die Nakba beruht wiederum hauptsächlich auf mündlicher Überlieferung. Die Dokumentationen der PLO (Palestinian Liberation Organisation) hat Israel 1982 bei seinem Einmarsch nach Beirut erbeutet.

Damit der Staat rausrückt, was er weiß, stellt Akevot immer wieder neue Anträge, legt Widerspruch bei Ablehnung ein, bisweilen bis zum Obersten Gericht. „Es gibt ein Recht auf Wahrheit“, sagt Lior Yavne. „Sie kann Juden und Arabern letztlich nutzen.“ Weil es ohne sie keine Aussöhnung geben kann.

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