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Ein Abgang, kein Abschied

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Von: Peter Riesbeck

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Sigrid Kaag geht unbeirrt ihren Weg (Szene aus dem niederländischen Parlament Anfang September).
Sigrid Kaag geht unbeirrt ihren Weg (Szene aus dem niederländischen Parlament Anfang September). © picture alliance / ANP

Die niederländische Außenministerin zieht die Konsequenz aus dem Afghanistan-Debakel.

Der Entschluss war unumstößlich: Noch ein letztes Mal drehte sich Sigrid Kaag im Plenum um zu Verteidigungsministerin Ank Bijleveld, dann sagte sie: „Nach meinem Verständnis von Demokratie und politischer Kultur muss ein Minister nach solch einem Votum gehen.“ Am späten Donnerstagabend reichte Kaag ihren Rücktritt als Außenministerin ein.

Gerade zuvor hatte das niederländische Parlament ihr und Bijleveld eine Missbilligung wegen des Afghanistan-Debakels ausgesprochen. Aber nur Kaag zog die Konsequenzen – und setzte damit auch Premier Mark Rutte unter Druck.

Kaag tickt anders als viele Politiker

Rutte und seine rechtsliberale VVD hatten die Wahl im März zwar gewonnen, aber die heimliche Siegerin war Sigrid Kaag. Die Vorsitzende der linksliberalen D66 hatte ihre Partei zur zweitstärksten Kraft gemacht. So überwältigt war Kaag, dass sie am Wahlabend auf einen Tisch sprang und tanzte, als ihr die Resultate übermittelt wurden.

Kaag, 59, tickt anders als viele Politiker. Sie hat keinen handelsüblichen Karriereweg genommen. Ihr Studium der Arabistik absolvierte sie in Kairo, Oxford und an der Elitehochschule ENA in Paris. Sie stieg erst im holländischen Außenamt auf und wechselte dann zu den UN, wo sie unter anderem beim Welternährungsprogramm arbeitete.

Außenpolitik war für sie immer Berufung

Vor vier Jahren machte Rutte sie zur Ministerin für Entwicklungszusammenarbeit, in diesem Frühjahr übernahm sie das Außenamt. Nun ist Schluss. Ausgerechnet wegen Afghanistan, ausgerechnet für eine Engagierte, die stets den humanitären Aspekt der Außenpolitik betonte und für eine liberale Flüchtlingspolitik eingetreten ist. Ein „Prachtamt“ nannte Kaag in ihrer Rücktrittsrede ihr Ministerium. Außenpolitik war für sie immer Berufung. Das lässt sich weiß Gott nicht von jedem in dem Job sagen.

Kaag ist die erste westliche Politikerin, die für das Versagen beim Rückzug aus Afghanistan Verantwortung übernimmt. Ihr Abgang ist aber kein Abschied. Kaag bleibt Chefin von D66. Und verhandelt schon dieses Wochenende mit Rutte weiter über die Bildung einer Regierung.

Aber der Premier ist beschädigt

Die nämlich stockt seit den Wahlen im März. Ruttes VVD sowie Kaags D66 und die christdemokratische CDA hatten sich rasch auf ein Bündnis verständigt. Da endeten aber auch die Gemeinsamkeiten. Dem Trio fehlte mindestens ein Partner für die Mehrheit im Plenum. Kaag drängte auf Sozialdemokrat:innen und Grüne, die aber nur zusammen in eine Regierung wollen. Rutte lehnte einen Linksruck ab und favorisierte die christradikale CU; die wiederum fiel wegen ihrem strikten Nein zu Abtreibung und Sterbehilfe bei Kaag durch. Was Wunder also, dass die nötigen Stimmen für den Missbilligungsantrag nun von der CU kamen.

„Ich finde es echt schrecklich“, kommentierte Rutte Kaags Rückritt, der zugleich auch eine versteckte Attacke war: Rutte war im Frühjahr wegen eines gedanklichen Blackouts mit der Affäre um unrechtmäßig gekürzte Kindergeldzuschläge – der Premier mochte sich an Details nicht mehr so recht erinnern – vom Parlament das Misstrauen ausgesprochen worden. Politisch hat das eine ungleich größere Wucht als Kaags Missbilligung. Rutte aber verharrte im Amt. Und zog damit auch die Koalitionsfindung in die Länge, so dass die Niederlande bis heute auch noch kein Reformprogramm bei der EU eingereicht haben, um von deren Corona-Aufbaufonds zu profitieren.

Neuwahlen rücken wohl näher

„Ich bin ein anderer Mensch“, kritisierte Kaag damals Ruttes Verharren. Sie selbst handelte nun konsequent. Nach ihrem Rücktritt wurden Rutte und Kaag noch gemeinsam beim Kaffee gesehen. Ein versöhnlicher Umgang gehört zur politischen Kultur des Landes. Aber der Premier ist beschädigt. Noch bastelt er weiter an einer Regierung. Aber sein Stehvermögen scheint gestört. Neuwahlen rücken wohl einen Schritt näher.

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