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Den ganzen Tag blockieren Aktivisten Verkehrsknotenpunkte in Berlin. Weniger Menschen als erwartet machen mit. Die Polizei reagiert entspannt.
Es ist 4.12 Uhr. Die Temperatur liegt knapp über dem Gefrierpunkt. Die Straßen der Hauptstadt sind wie leergefegt. „Wir schwärmen aus“, lautet die Nachricht über den Messenger der Aktionsgruppe. Der Protest von Extinction Rebellion (XR) beginnt. Etwa 600 Aktivisten marschieren in Richtung Siegessäule, die Kapuzen weit ins Gesicht gezogen. Einige hüllen sich in goldene Rettungsfolien. Die Kälte zieht durch die Kleidung. Ziel der Aktivisten ist es, den Berliner Berufsverkehr lahmzulegen.
4.37 Uhr. Kein Auto passiert mehr den Platz. Aktivisten sitzen auf dem Boden, tanzen oder singen. Kleine Gruppen haben sich an den Zufahrtsstraßen in Position gebracht und präsentieren aufgebrachten Auto- und Lastwagenfahrern ihre Transparente. „Ihr haltet mich vom Weg zur Arbeit ab“, brüllt ein Fahrer aus dem Fenster. Ein Kleintransporter hält auf die Gruppe zu, bleibt wenige Meter vor ihr stehen und hupt. Kein Durchkommen. Nur Rettungskräfte lassen die Aktivisten durch.
„Dass es für den Einzelnen störend ist, sehen wir ein“, sagt Julian Hainer, „doch wir sehen uns genötigt, das zu tun.“ Er ist einer der rund 40 Aktivisten, die sich an der Altonaer Straße aufgestellt haben. Auf der anderen Seite der Kreuzung steht ein Gruppenfahrzeug der Polizei. Darin sitzen die Beamten völlig entspannt und verspeisen ihr Frühstücksbrot. Auf Nachfrage sagt ein Polizist: „Hier passiert erstmal nichts.“ Der Große Stern bleibt bis zum Abend besetzt.
„Extinction Rebellion“: Aufstand gegen das Artensterben




Rund um Siegessäule ist die Stimmung ausgelassen. Freiwillige verteilen belegte Brötchen. Bunte Fahnen zieren die Laternen. „Wahnsinn“, sagt einer der Aktivisten. „Das ist ja wie ein großes Straßenfest.“ Und genau das ist es: ein Tanz anstelle einer Rebellion. Für Kanzleramtsminister Helge Braun handelt es sich bei der friedlichen Blockade um einen gefährlichen Angriff in den Straßenverkehr, sagt er zur gleichen Zeit im ZDF-Morgenmagazin.
Braun verteidigt die Klimapolitik der Regierung und auch die langsame Steigerung der CO2-Bepreisung. Den Organisatoren geht das nicht schnell genug. Radikalere Maßnahmen müssten her, „um einen umfassenden und tiefgreifenden Wandel herbeizuführen, der das Klima rettet“, sagt Eva Escosa-Jung, eine Sprecherin von Extinction Rebellion. Es soll eine Rebellion gegen das Aussterben werden, heißt es in einer Mitteilung der Gruppe.
12 Uhr. Alle warten auf den Auftritt der ehemaligen „Sea-Watch-3“-Kapitänin Carola Rackete, die symbolisch um fünf nach zwölf sprechen soll. Es wird dann etwas später. Vor etwa 1000 Menschen fordert Rackete von der Bundesregierung, über die Wahrheit bezüglich der Klimakrise aufzuklären und den ökologischen Notstand auszurufen – die Hauptziele von Extinction Rebellion.
Kommentar: Extinction Rebellion - so nötig wie radikal
Kann diese Form des Protests etwas verändern? „Wenn wir die letzten 30 Jahre mit Petitionen und Demonstrationen und Fridays for Future vor drei Wochen anschauen, dann hat sich leider erschreckend wenig bewegt“, sagte Rackete dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND). Es gebe keine andere Möglichkeit mehr, die Regierung zum Einlenken zu bringen. „Obwohl wir eine repräsentative Demokratie haben, wird häufig nicht für zukünftige Generationen, sondern für kleine Machteliten entschieden“, sagte sie dem RND. Man müsse die Entscheidungen wieder den Menschen in die Hand geben, die davon betroffen seien.
Trotz der überschaubaren Anzahl an Demonstranten scheint Rackete zuversichtlich, dass die Bewegung Erfolg hat. Auch in London seien am Anfang nur eine Handvoll Leute dabei gewesen und mittlerweile sei Extinction Rebellion als weltweite Bewegung in zahlreichen Ländern aktiv. „Ich glaube schon, dass das eine gute Bewegung ist, weil sie viel von vorangegangenen Bewegungen gelernt hat, vor allem eine Zukunft zu definieren, die man selbst haben möchte.“
Doch nicht nur der Große Stern steht an diesem Tag im Mittelpunkt. Neben der angemeldeten Kundgebung am Potsdamer Platz blockierten Aktivisten im gesamten Stadtgebiet Straßen, Kreuzungen und Kreisel.
Am Potsdamer Platz sitzen und stehen derweil rund 500 Menschen auf der Fahrbahn und blockieren einen weiteren Knotenpunkt. Eine Handvoll Polizisten schaut zu und ist sehr entspannt. „Ich habe noch nie so wenig Stau in der Stadt gesehen wie heute Morgen“, sagt einer. „Entweder es liegt an den Herbstferien oder die Berliner haben sich auf die Aktionen vorbereitet.“
Schon am Samstag wurde die Wiese vor dem Kanzleramt zur Zeltburg umfunktioniert. Dort, wo vor zwei Wochen noch die Aktivisten der Fridays-for-Future-Bewegung siedelten, machte sich nun Extinction Rebellion mit einem Protestcamp breit. Nach Angaben der Organisatoren hatten sich am Sonntagabend bereits 2000 Aktivisten dort eingefunden.
„Es ist voll, aber die Infrastruktur ist noch nicht überlastet“, sagt Judith Pape vom XR-Organisationsteam. Die Nächte seien zwar fürchterlich kalt, doch die Stimmung gut. Vor den Toren des Kanzleramts wurde gesungen. Leila Swartling und Henrik Green (beide 26) sind aus Schweden angereist. Wie viele der anderen internationalen Aktivisten werden sie die Woche im Berliner Protestcamp verbringen. „Deutschland hat im Vergleich zu Schweden einen größeren Einfluss auf die EU“, sagt die junge Schwedin. Ein Grund, weshalb sie den Protest hier unterstützen wollen. Im eigenen Land, der Heimat der Initiatorin der Klimabewegung, Greta Thunberg, sei die Bewegung noch nicht so groß. „Aber Greta ist nur ein Teil der Klimabewegung. Extinction Rebellion ist der andere.“
Und mit ihr der zivile Ungehorsam, den die Bewegung in der kommenden Woche in Berlin streuen möchte. Doch wie radikal darf der Protest für das Klima werden? Volker Quaschning, Professor für regenerative Energiesysteme an der Beuth-Hochschule Berlin und Mitbegründer von Scientists for Future, ist der Einladung der Initiatoren ins Camp gefolgt. Er hat eine simple Antwort: „Die Radikalität muss dem Problem angemessen sein.“ Er sei zwar Beamter, weshalb er sich nicht auf die Straße legen darf. „Aber ich darf durchaus Sympathien mit solchen Leuten haben – solange es friedlich vonstatten geht.“