1. Startseite
  2. Politik

„Diktatur stalinschen Typs“: Russlands Justiz verhängt immer längere Haftstrafen

Erstellt:

Von: Stefan Scholl

Kommentare

Russlands bekanntester politischer Gefangener: Alexei Nawalny.
Russlands bekanntester politischer Gefangener: Alexei Nawalny. © dpa

In Russland ist Alexei Nawalny nur das bekannteste Beispiel für das harte Vorgehen des Regimes gegen seine Widersacher. Die Fälle mehren sich und – mit ihnen die Erinnerungen an die Stalinzeit.

Dem inhaftierten russischen Oppositionsführer Alexei Nawalny droht ein neuer Prozess. Wie sein Anwalt Wadim Kobsew am Dienstag twitterte, haben ihn schwer bewaffnete Strafvollzugsbeamte des Zuchthauses Melechowo bei Wladimir gewaltsam in eine Zelle mit einem extrem schmutzigen und stinkenden Mitgefangenen gesteckt. Nawalny versuchte vergeblich, diesen aus der Zelle zu drängen. Laut Kobsew verkündete die Lagerleitung Nawalny danach, man werde ein neues Verfahren wegen „Desorganisierung der Anstaltstätigkeit“ gegen ihn eröffnen, Höchststrafe fünf Jahre. Zurzeit sitzt Russlands bekanntester politischer Gefangene zwei Haftstrafen von zwei Jahren, acht Monaten und neun Jahren ab. Aber schon laufen weitere drei Verfahren gegen ihn, wegen Gründung einer rechtswidrigen Nichtregierungsorganisation sowie einer extremistischen Vereinigung und der Finanzierung extremistischer Tätigkeiten. Laut dem Portal „agents.media“ könnten Nawalny insgesamt 30 Jahre drohen, dann käme er erst 2051 frei.

Russlands Justiz verhängt immer längere Haftstrafen. Erst am Montag wurde der Oppositionelle Wladimir Kara-Mursa zu 25 Jahren verurteilt, dem US-Journalisten Evan Gershkovich drohen als angeblichem Spion 20 Jahre. Und am Dienstag verabschiedete die Staatsduma ein Paket neuer drakonischer Strafgesetze. Es sieht unter anderem „lebenslang“ für Landesverrat vor. Für Terror- und Diversionsakte, darunter auch für „den Einsatz von Krankheitserregern, die Seuchen hervorrufen“, werden künftig bis zu 20 Jahre verhängt. Eingebürgerten Russ:innen kann ihre Staatsbürgerschaft wieder entzogen werden, auch ohne Gerichtsurteil, falls der Geheimdienst FSB die nationale Sicherheit in Gefahr sieht. Und ein neuer Straftatbestand verlangt bis zu fünf Jahre Haft für die „Mithilfe bei der Ausführung von Entscheidungen internationaler Organisationen“.

Russlands Retourkutsche für Haftbefehl gegen Putin?

Nach Ansicht der BBC ist das die prompte Reaktion auf den Haftbefehl, den der Internationale Gerichtshof in Den Haag Mitte März gegen Wladimir Putin verhängte.

Manche Beobachter:innen erinnern sich angesichts der verschärften Schuldsprüche und Gesetzesnovellen schon an die Justiz der Sowjetunion – in ihren schlimmsten Zeiten. So schreibt der Moskauer Stadtparlamentarier Wladimir Ryschkow auf Facebook von „einer offenen Diktatur stalinschen Typs“. Und angesichts sich häufenden Anzeigen, mit denen Denunziant:innen pazifistische Internetnutzer:innen, aber auch Prominente vor Gericht bringen wollen, zitieren viele in Russland wieder die rhetorische Frage des Sowjetschriftstellers Sergej Dawlatow über Stalins Massenterror: „Aber wer hat vier Millionen Denunziationen geschrieben?“

Russland: Rückkehr des „Wir-gegen-Sie“-Gefühls

Der Politologe Andrej Kolesnikow von der Carnegie Stiftung für Internationalen Frieden sieht eine Wiederbelebung des alten sowjetischen „Wir-gegen-Sie“-Gefühls. Viele postsowjetische Russen hätten dieses lange als vertikalen Widerspruch zwischen dem armen „Wir“ und einem in Luxus lebenden „Sie“, erlebt. Jetzt aber kehre das horizontale, sowjetische Verständnis zurück: „Wir“, das sind alle, die die angegriffene Heimat verteidigen, „Sie“ aber die Ukrainer, die Nato, die USA, die EU, der Westen. Und für Putin selbst auch seine innenpolitischen Feinde. „Jene, die versuchen, unsere Gesellschaft zu schwächen und zu spalten“, wie der Staatschef Ende Februar sagte. Man müsse gegen diesen „Abschaum“ aggressiv und entschlossen vorgehen.

Kolesnikow sieht das Entstehen eines „hybriden Totalitarismus in Russland“. George Orwells antistalinistische Fabel „Farm der Tiere“ scheint wieder aktuell zu sein. Dort hetzte der machthabende Eber Napoleon seine Hunde außer auf die feindlichen Menschen auch auf mutmaßliche vierbeinige Helfershelfer seines geflohenen Konkurrenten Schneeball.

Russland: Wird auch die Todesstrafe wieder eingeführt?

Der Moskauer Politologe Jurij Korgonjuk bezweifelt, dass Putin und sein Gefolge totalitäre Visionen hegen. Er glaubt, der Kreml kompensiere so die mageren militärischen Erfolge in der Ukraine und das wachsende Haushaltsdefizit als Folge der westlichen Sanktionen. Er schließt nicht aus, dass der Kreml auch die Todesstrafe wieder einführt.

Es gibt optimistischere Stimmen. Nach seinem 25-Jahre-Urteil veröffentlichte der kranke Kara-Mursa aus der Haft einen Brief, in der er an eine Gruppe Sträflinge erinnert, die gegen Ende der Stalinzeit in Sibirien landeten. Als der Kommandeur ihnen verkündete, sie seien „auf ewig verbannt“, fing eine Frau an zu lachen. „Die glauben schon, sie seien die Herren der Ewigkeit. Ihr werdet sehen, diese Ewigkeit geht bald zu Ende.“

Auch interessant

Kommentare