„Die Zerstörung dauert an“

Die chilenische Aktivistin Ruth Kries über die Chancen der neuen linken Regierung Boric, den Kampf um höhere Löhne und Renten und über einen 32 Jahre währenden Prozess.
Frau Kries, am 11. März hat in Chile eine neue Regierung die Arbeit aufgenommen, geführt von dem jungen Linkssozialdemokraten Gabriel Boric als Präsident. Sie haben diesen politischen Wechsel vor Ort erlebt. Welche Hoffnungen, welche Erwartungen verknüpfen die Menschen in Chile mit ihrer neuen Regierung?
Mit dem Regierungswechsel haben sich sehr hohe Erwartungen verbunden. Seit Jahrzehnten schwelt in Chile eine politische und soziale Krise. Sie mündete vor zweieinhalb Jahren in einen Aufstand der Straße, der das ganze Land erfasste, nicht nur die Hauptstadt Santiago de Chile. Der vorherige bürgerliche Präsident Pineda war wegen des Aufstands gezwungen, der Bildung einer Verfassungsgebenden Versammlung zuzustimmen. Es geht darum, die Verfassung zu ändern, die in weiten Teilen noch aus der Zeit des Militärregimes von Augusto Pinochet stammt, der von 1973 bis 1990 als Diktator geherrscht hat. Die neue Verfassung soll die Forderungen des Aufstandes aufgreifen. Allerdings in abgeschwächter Form. Am 7. Juli soll die neue Verfassung vorgestellt werden, am 4. September gibt es dann eine Volksabstimmung darüber.
Was sind die wichtigsten Anforderungen der Menschen für die neue Verfassung?
Eine wichtige Sache sind würdige Renten. Die Renten sollen nicht nur erhöht werden, sie sollen Teil eines neuen sozialen Sicherungssystems werden, das der Staat organisiert. Bisher haben private Rentenkassen das Sagen, die Geschäfte mit den Renten machen. Weitere wichtige Forderungen sind ein neues Bildungs- und ein neues Gesundheitssystem, das für alle Menschen da ist und nicht nur für die Reichen. Und es soll höhere Löhne geben und einen höheren Mindestlohn.
Wie hoch ist der Mindestlohn in Chile zur Zeit?
Er liegt umgerechnet bei etwa 400 Euro. Und das, während die Preise vergleichbar mit den deutschen Preisen sind. Viele Menschen verfügen aber tatsächlich über viel weniger Einkommen als diesen Mindestlohn. In Zukunft – das ist ein Versprechen der neuen Regierung – soll der Mindestlohn zunächst auf 450 Euro erhöht werden, am Ende der Regierungszeit soll er dann 500 Euro betragen. Für das neue Gesundheitssystem sollen sowohl Arbeitgeber wie Arbeitnehmer einzahlen, so wie das in Deutschland geschieht.
Welche anderen Forderungen an die neue Regierung gibt es?
Sehr wichtig ist auch der Umgang mit der indigenen Urbevölkerung in Chile. Über viele Jahre wurde ein Bild gezeichnet, demzufolge die Indigenen, die etwa zwölf Prozent der Bevölkerung ausmachen, faul und unehrlich sind. Die indigenen Menschen wurden diskriminiert und unterdrückt. Jetzt soll es endlich die gleichen Rechte für sie wie für alle Chilenen geben. Seit Jahren protestieren die indigenen Völker im Süden Chiles gegen ihr Schicksal. Die neue Regierung verspricht, etwas zu ändern. Bisher gibt es aber nur viele Worte und wenige Taten.
Sie stammen auch selbst aus dem Süden Chiles.
Ja. Ich kann nur sagen, dass der Konflikt dort immer größer wird. Die indigenen Menschen hoffen und fordern, dass sie das Land wieder zurückbekommen, das ihnen einmal gehört hat. Aber seit dem Pinochet-Regime dauert die Zerstörung der Urwälder und des Landes der Indigenen an. Wenige reiche Großgrundbesitzer pflanzen statt der Urwälder Monokulturen von Pinien und Eukalyptus an, die wirtschaftlichen Profit bringen. Die ökologische Situation im Süden Chiles ist katastrophal. Es gibt immer weniger Wasser, die Strände sind von Schadstoffen vergiftet.
Sie haben den Regierungswechsel am 11. März miterlebt. Wie war die Stimmung im Land?
Viele Menschen waren glücklich am Anfang und haben gefeiert. Doch jetzt sind sechs Wochen vergangen und der Enthusiasmus ist nicht mehr so groß. Es gibt eine große Anspannung im Land. Die rechten Gegner der Regierung haben wieder mehr Einfluss erobert. Es wird deutlich, auf welche Schwierigkeiten die neue linke Regierung stößt. Sie ist sehr schwach, verfügt über keine Mehrheit im Parlament. Die Korruption in der Polizei und in der Armee ist immer noch hoch. Einige engagierte und tapfere Staatsanwälte kämpfen gegen die Korruption. Die alten Mächte werden von einer moralischen Krise erschüttert, auch die Kirche.
Woher kommt der Widerstand gegen die neue linke Regierung?
Ein wichtiger Gegner ist der Justizapparat, der auch gegen die verfassungsgebende Versammlung Front macht. Und die Reichen bekämpfen Boric. Ein Prozent der chilenischen Oberschicht besitzt noch immer mehr als die Hälfte des Reichtums im Land. Das sind die Unternehmer, denen etwa fast alle Zeitungen und Fernsehkanäle gehören, die Besitzer der Banken und der Industrieunternehmen.
Die Verbrechen des Pinochet-Regimes, das vor fast 50 Jahren an die Macht kam, sind bis heute nicht aufgearbeitet.
Das ist richtig. Die meisten Täter des Militärregimes sind davongekommen, nur wenige wurden zur Rechenschaft gezogen. Nur eine kleine Gruppe musste ins Gefängnis. Ich selbst führe seit 32 Jahren einen Prozess, in dem es noch immer kein Urteil gibt.
Sie selbst und ihr Ehemann waren Opfer des Militärregimes.
Ich stamme aus der Gegend etwa 700 Kilometer südlich von Santiago. 1973, zur Zeit des Militärputsches, hatte ich gerade meine Ausbildung zur Kinderärztin abgeschlossen. Mein Ehemann war damals Chef des staatlichen Gesundheitswesens. Das Militärregime hat ihn nach dem Putsch im September 1973 verhaftet und verschwinden lassen. Ich bekam später eine offizielle Mitteilung, er sei erschossen worden. Aber ich weiß bis heute nicht, was mit ihm geschehen ist. Ich konnte ihn nicht begraben.
Wie konnten Sie weiter leben, wie gehen Sie damit um?
Ich kann damit leben, weil ich den Kampf gegen die führe, die das getan haben. Ich bin heute 77 Jahre alt. Aber für mich ist es wichtig, weiter für Gerechtigkeit und Wahrheit zu kämpfen.
Wie weit wird Präsident Gabriel Boric kommen?
Wenn die neue Verfassung nicht verabschiedet und umgesetzt wird, bekommt er Schwierigkeiten von allen Seiten. Die Menschen in Chile werden sehr enttäuscht sein. Es wird neue Aufstände geben. Und für ihn wird es dann sehr gefährlich.
Interview: Claus-Jürgen Göpfert
