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„Die Zeit der Gutachten ist vorbei“

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Von: Joachim Frank

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Doris Reisinger.
Doris Reisinger. © Stefano Dal Pozzolo/EPD

Theologin Doris Reisinger über die nächsten Schritte bei der Aufarbeitung.

Frau Reisinger, worin liegt für Sie die Bedeutung des Münchner Gutachtens?

Sicher einzigartig ist die lange Stellungnahme Joseph Ratzingers, des früheren Papstes Benedikt XVI. Sie macht deutlich, dass sich an seiner Grundhaltung zu Missbrauch überhaupt nichts geändert hat. Der Hammer dieses Gutachtens ist aber: Wir wissen jetzt, dass Ratzinger bereit ist, öffentlich zu lügen, um sich seiner Verantwortung zu entledigen. Wie dreist oder wie verzweifelt muss man sein, um so etwas zu tun?

Spielt das wirklich noch eine so gewaltige Rolle? Ratzinger ist inzwischen fast 95.

Sein Ruf als Chefaufklärer in seiner Zeit als Papst ist in weiten Kreisen bis heute ungebrochen. Ich hoffe, dass mit diesem Mythos fortan Schluss ist. Aber die Gutachter:innen dehnen ihren Befund ja aus auf die Haltung der Kirche insgesamt. Bis heute habe es keinen Paradigmenwechsel gegeben.

Was heißt das für Sie?

Es herrscht im Umgang mit Missbrauch und mit Betroffenen weiter die kalte Logik des kirchlichen Strafrechts vor. Bis heute müssen Betroffene damit rechnen, dass ihnen mit einem grundsätzlichen Misstrauen begegnet wird. Das ist ein Urteil über den Aufarbeitungsprozess, den die Kirche zu unternehmen vorgibt. Das ist mit Blick auf München aber auch ein verheerendes Urteil über Kardinal Reinhard Marx.

Zur Person

Doris Reisinger, Theologin und Autorin, war selbst von sexuellem Missbrauch in der Kirche betroffen.

Was sind Ihre Folgerungen?

Alle Urteile nach Aktenlage, die in kirchlichen Archiven ja ohnehin verheerend war, sind vollkommen unzulänglich. Deswegen haben die Münchner Gutachter richtigerweise auf Zeitzeugen-Befragungen gesetzt. Sie sind damit dann eben auch zu anderen Erkenntnissen gelangt, nicht zuletzt über Joseph Ratzinger. Aber ich denke, dass damit auch klar ist: Wir müssen jetzt einen Schritt weiter gehen.

Nämlich?

Die Zeit der Gutachten ist vorbei. Es braucht jetzt persönliche Verantwortung. Es braucht Wiedergutmachung soweit möglich, und es braucht einen Systemwechsel, der endlich mit den begünstigenden Faktoren für Missbrauch in der Kirche aufräumt. Das Bittere ist: Ich rechne nicht damit. Deswegen wird die Frage von entscheidender Bedeutung sein: Werden Politik und Justiz die Samthandschuhe fallen lassen, mit denen sie die Kirche allzu lange angefasst haben?

Interview: Joachim Frank

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