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Die Menschen vereinzeln und verstummen

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Von: Stefan Scholl

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In Moskau geht das Leben weiter, irgendwie. Doch für Stefan Scholl, der in Russlands Hauptstadt arbeitet, ist der Alltag schwieriger geworden.
In Moskau geht das Leben weiter, irgendwie. Doch für Stefan Scholl, der in Russlands Hauptstadt arbeitet, ist der Alltag schwieriger geworden. © Kirill Kudryavtsev/afp

Der FR-Korrespondent in Moskau schaut zurück auf ein Jahr im Ausnahmezustand, beruflich und privat, auf falschen Frieden, vergebliches Warten, mutige Menschen in Russland und russische Freundinnen und Freunde, die keine mehr sind.

Am Morgen wache ich vom emsigen Gepiepse des Handys auf, draußen hängt hellgrauer Winterhimmel über dem verschneiten Moskau. Ich werfe einen flüchtigen Blick auf die neueste Whatsapp-Sprechblase, eine Bekannte, eine Musiklehrerin aus Omsk, schreibt: „Ich kann es nicht glauben.“ Eine böse Vorahnung greift nach mir, ein paar Worte später springt mir der 24. Februar 2022 wie ein irrer Moloch ins Gesicht: Kriiieg!

Das erste Bild, an das ich mich erinnere, ist ein ukrainisches Handyvideo: Ein Düsenjäger dreht über einer Datschensiedlung eine halsbrecherische Kurve, ein anderer verfolgt ihn. Apokalypse am ukrainischen Himmel. Es folgen Tage und Nächte, in denen ich mich fieberhaft durch russische und ukrainische Telegramkanäle arbeite, durch Bilder abstürzender Hubschrauber, in Plattenbauten einschlagender Raketen, toter Feinde. Und jeden Morgen wache ich aufs Neue in einem Alptraum auf: Die Ukraine ist Schlachtfeld geworden. Das russische Publikum draußen macht glatte, unbeteiligte Gesichter …

Ich lebe in Moskau, ich lebe in einem falschen Frieden und als Journalist eines „unfreundlichen“ Landes auf der falschen Seite der Front. Oder zwischen den Fronten. Meine Frau ist Russin, meine Töchter kamen in Tscheboksary an der Wolga zur Welt, aber die jüngere haben wir in Kiew getauft. Früher habe ich die Moskauer:innen damit gefoppt, Kiewer Bier sei besser.

Ich habe die Russinnen und Russen immer gemocht, auch wenn sie nicht zu Demokrat:innen taugen. Im Gegensatz zu den Ukrainerinnen und Ukrainern, die mir auf dem Maidan 2014 sehr altmodisch zeigten, dass man für politische Freiheit auch sein Blut vergießen kann. Jenseits der Politik aber waren auch die Russ:innen fröhlich, optimistisch, vielleicht etwas großspurig, ein sogenanntes junges Volk. Russ:innen lieben das Leben. Die Ukrainer:innen auch. Jetzt aber wehren sich die einen wütend gegen die anderen, sie töten und hassen einander, auch in meinem Kopf. Der summt jetzt oft wie ein Smartphone, hinter dessen Bildschirm Kriegsvideos kreisen, während die Kamera ständig eingeschaltet ist auf der rastlosen Suche nach Anzeichen des Friedens.

FR-Ausgabe: Ein schwarzer Tag

Der russische Angriff auf die Ukraine markiert eine Zäsur. Wie der Krieg das Denken militarisiert und sich die Sicherheitslage in Europa verändert, untersucht die Themenausgabe der Frankfurter Rundschau vom 24. Februar 2023, der wir diesen Text entnommen haben. Weitere Aspekte daran:

Neue Normalität: Frieden wird die Ausnahme sein, sagt der Soziologe Richard Sennett.

Altes Denken: Wie der Militarismus einen Siegeszug durch unsere Köpfe angetreten hat.

Neuer Alltag: Stefan Scholl berichtet für die FR aus Moskau. Der Krieg hat sein Leben verändert.

Alte Ängste: Politologe Karl-Rudolf Korte über die Sorgen der Deutschen und ihr Krisenmanagement.

Neues Leben: Flucht aus Kiew, dann Neubeginn in Deutschland: Zwei Brüder berichten über ihr Jahr.

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Die Kämpfe in der Ukraine haben inzwischen mehrere Wendungen genommen, auch in Kiew gibt es längst wieder Alltag. Viele Szenen in beiden Hauptstädten gleichen sich. Aber wenn auf einem Kiewer Spielplatz eine Mutter mit ihrem jubelnden Kind um die Wette rennt, hat das etwas Tapferes. Über Moskaus Spielplätzen schwebt eine andere Fröhlichkeit, mit Gleichgültigkeit und Ignoranz versetzt: Ist doch gar nichts passiert!

Erschütternd viele Russ:innen wollen nichts wissen von der Not und dem Tod in der Ukraine, kennen weder Mitleid noch Empathie. Auch gute Bekannte und alte Freunde scheinen Krieg als blutige Verlängerung russischer Nationalsportarten zu betrachten. Ich begegne hier mehr Propagandaministern als in Deutschland Bundestrainern. Die Ukrainer:innen, dröhnen sie, seien Neonazis, ihr Westler Nazis. Ihr wollt uns unsere Bodenschätze abnehmen, unsere Erde, unser russisches Selbst. Schon immer und jetzt erst recht!

Auch früher hat kaum ein Russe mit mir diskutiert, um Argumente auszutauschen und etwas dazuzulernen, es ging fast immer ums Rechtbehalten. Jetzt ist diese Rechthaberei boshaft geworden, Lüge und Schmähung sind anerkannte rhetorische Mittel. 18 Jahre war ich mit Mischa, Klempner aus Twer, befreundet, wir spielten Schach, meine Töchter vergötterten ihn für seine Kunst, auf Händen durch die Wohnung zu laufen. Aber vergangenen März krönte er mehrere böse Wortwechsel mit triumphalem Grinsen: „Für dich sind wir ja sowieso Untermenschen!“

Viele Freunde sind verschwunden in diesem Jahr. Die einen antworteten mir per Whatsapp schon aus Tiflis oder Warschau, als ich mich in Moskau mit ihnen zum Kaffee verabreden wollte. Die anderen sind nicht mehr meine Freunde. Dafür lerne ich neue Leute kennen, die den Mut haben, zwei und zwei zu addieren und gegen das Ergebnis fünf zu sein. Vereinzelt, aber immer wieder.

Das ganze Land vereinzelt und verstummt. Eine Millionenmehrheit schweigt, als wollte sie die Apokalypse vor dem Fernseher aussitzen, aber mit ausgeschaltetem Ton, das bühnenreife „Tötet die Deutschen!“ des Starpropagandisten Wladimir Solowjow will man nicht hören.

Unbekannte, die meinen gutturalen Akzent hören, reagieren erstaunt bis erfreut. Jeder Westeuropäer, der noch hier ist, scheint eine gute Nachricht zu sein. Polizisten und Schalterbeamte sind höflich und durchaus bemüht, ein Vertreter des Moskauer Innenministeriums kommt ins Plaudern: „Wollen Sie nicht die russische Staatsbürgerschaft beantragen? Sie könnten auch ins Feld ziehen und direkt aus unseren Schützengräben berichten.“

Als „unfreundlicher“ Korrespondent habe ich jetzt mehr Papierkrieg. Akkreditierung und Visum sind kein Jahr mehr, sondern nur noch drei Monate gültig, selbst für die polizeiliche Anmeldung muss man telefonisch um Termine bitten, mit Wartezeiten von zwei Wochen. Alle paar Monate wird jemandem die Verlängerung der Akkreditierung verweigert, erst einer dänischen Kollegin, kürzlich einer Finnin. Wir ängstigen uns auch, weil im März ein Gesetz erlassen wurde, das für die „Diskreditierung“ der Armee bis zu 15 Jahre Haft vorsieht, außer den meisten oppositionellen russischen Journalist:innen haben amerikanische und britische Kollegen das Land verlassen. Aber ins Gefängnis gehen bisher russische Staatsbürger.

Im Sommer habe ich mich mit einem jungen Gewerkschaftsaktivisten verabredet, er sitzt mit Tränen in den Augen auf der Caféveranda: Eine Viertelstunde vor mir ist ein Mann aufgetaucht, der sich als Stefan Scholl, Journalist, ausgab, aber akzentfrei Russisch sprach. Die Polizeispitzel tun sich keinen Zwang mehr an. Und mein entnervter Gesprächspartner will mir lange nicht glauben, dass ich der echte Scholl und ausländische Korrespondent bin …

Angst vor Gefängnis, Angst vor der Nato, Angst vor der Wahrheit, es gibt jetzt die verschiedensten Arten von Angst in Moskau. Über eine Million russischer Männer sind im Oktober vor der Mobilmachung ins Ausland oder in den Untergrund geflohen. Was wäre gewesen, frage ich mich manchmal, wenn sie ihre Furcht in Zivilcourage gedreht hätten und mit ihren Verwandten in Moskau auf die Straße gegangen wären?

Solche Fragen quälen mich seit dem 24. Februar. Überall in Russland suche ich Anzeichen dafür, dass sich etwas bewegt. Jedes T-Shirt mit der lateinischen Aufschrift „Antihero“ oder „USA“ knipst die Kamera in meinem Kopf, auch die kyrillische Graffiti auf dem Asphalt der Parkwege, wo ich jogge: „Putler ist das Böse.“ Der Spruch war sogar meterhoch auf eine Wellblechwand beim Parkeingang gesprüht, auf der Bank darunter machten zwei junge Streifenpolizisten gelangweilt Zigarettenpause. Aber auch das war nur ein Schnappschuss für den Hinterkopf. Nach einem Sommer Guerillakrieg auf meiner Jogging-Runde sind alle Putler-Sprüche auf dem Asphalt übermalt und die Wellblechwände abgerissen, nachts rollt ein Polizeiwagen langsam durch den Park.

Es ist ein Jahr vergeblichen Wartens gewesen. Russland bewegt sich nicht. Zu Beginn der Mobilmachung ließen sich im September noch einmal ein paar Hundert Tapfere bei Straßenprotesten einsperren, Moskaus Kneipen leerten sich sichtlich, dafür wurde statt Bier mehr Wodka getrunken. Aber jetzt sind die Kneipen wieder gut gefüllt. Zwar kostet das Bier einen halben Euro mehr, eine Supermarkt-Tüte voller Lebensmittel ist etwa 30 Prozent teurer geworden. Macht nichts, die Russen sind es seit 2014 gewohnt, dass ihr Lebensstandard jährlich ein wenig sinkt. Und ist sonst etwas passiert?

Manchmal flackert doch unerwartet Frieden auf. „Wie gut, dass Sie noch da sind!“, lächelt mich eine Frau in einem Twerer Treppenhaus an, die ich vor drei Jahren einmal gesehen habe. Und dann gesteht sie: „Glauben Sie mir, wir begreifen auch, was passiert.“ Ihr Gesicht ist rot geworden, vielleicht, weil sie spürt, dass dieses Geständnis auch wenig ändert.

Momente wahren Glückes gibt es auf der anderen Seite der Front. Am 11. November eroberten die Ukrainer die über acht Monate von Russen besetzte Großstadt Cherson zurück. Die Telegramkanäle auf meinem Moskauer Notebook zeigten Fahnen schwenkende, vor Freude lachende und weinende Menschenknäuel, die ukrainische Soldaten in die Luft werfen, als hätten sie gerade das Elfmeterschießen im WM-Finale gewonnen.

Wenn die Russinnen und Russen zusähen, dachte ich, sie müssten sich an die Jubelszenen in den von den Nazis befreiten russischen Städten erinnern, vor 80 Jahren. Und begreifen, dieses Land, diese Nachbarn wollen nicht von uns befreit werden, für die sind wir die Besatzer. Schluss, aus, Frieden! Wir gehen einfach nach Hause! Aber nur meine Frau kommt, macht die Tür zu, das fremde Glück ist ihr zu laut geworden

Februar 2023. Draußen hängt der Winter wieder graurosig über Moskau. Fußgänger:innen trampeln schmutzige Pfade in den Neuschnee, mit Gesichtern voller Alltag. Als gäbe es das große Sterben in der Ukraine noch immer nicht. Auch deshalb wird dieses Sterben weitergehen, ein Staat, der von solchen Fußgänger:innen bewohnt wird, kann sehr lange Krieg führen. Aber die Ukrainerinnen und Ukrainer besiegt er nicht.

Stefan Scholl lebt in Russland..

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