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Die Mär vom Wohlstand für alle

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Von: Aram Ziai

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Was können wir von den Wirtschaftsweisen im globalen Süden lernen?
Was können wir von den Wirtschaftsweisen im globalen Süden lernen? © Hans Lucas/Imago Images

FR-Event: Ist globale Ungleichheit ein Problem des „Fortschritts“? Der klassische Ansatz der Entwicklungspolitik legt das zumindest nahe. Politikwissenschaftler Aram Ziai plädiert für ein radikales Umdenken

Entwicklungspolitik ist wie Erdbeerkuchen: Fast alle können sich darauf einigen und niemand hat etwas dagegen. Wenn Entwicklungspolitik das Ziel hat, die Lebensverhältnisse von Menschen in sogenannten „Entwicklungsländern“ zu verbessern, warum in aller Welt sollte jemand daran Kritik üben wollen? Oder sie dekolonisieren? Was hat Entwicklungspolitik überhaupt mit Kolonialismus zu tun?

Vorneweg sei gesagt: Ja, globale Ungleichheit ist ein gewaltiges Problem. Aber sie als Problem der „Entwicklung“ zu denken, ist Teil des Problems, nicht der Lösung. Auch wenn es im späten Kolonialismus bereits erste zaghafte Versuche gab, wurde das erste Programm zur „Entwicklung der unterentwickelten Regionen“ erst 1949 angekündigt, in Harry S. Trumans Antrittsrede zu seiner zweiten Amtszeit als US-Präsident. Er versprach ihnen Hilfe, Technologietransfer, Wachstum, Fortschritt – mit einem Wort: „Entwicklung“.

Truman distanzierte sich dabei vom „alten Imperialismus“ und bot den Ländern sinngemäß eine Partnerschaft auf Augenhöhe, von der beide Seiten profitieren würden. Beide Seiten, denn die Armut des Südens war für Truman ein „Hindernis“ (für die Ausbreitung der US-Industrie in neue Märkte) und eine „Bedrohung“ (sollten sie ins kommunistische Lager überlaufen). Dieses neue Programm wurde begeistert aufgenommen, gerade auch im Süden. Vor allem, weil das alte Programm die Beziehungen zwischen Nord und Süd gänzlich anders konzipiert hatte.

Kann Entwicklungspolitik postkolonial sein?

Dieses alte Programm war der Kolonialismus. Und wenn wir uns eine Rede von Trumans Vorgänger Theodore Roosevelt ansehen, wird der Unterschied deutlich: Roosevelt erklärte 1901, dass die USA zwar eine friedliebende Nation seien, doch die Kriege mit barbarischen Völkern eine bedauerliche, aber notwendige polizeiliche Pflicht zum Wohle der Menschheit darstellten. Der Kolonialdiskurs unterschied zwischen zivilisierten Weißen und jenen als minderwertig konstruierten Anderen, die im Namen des Fortschritts überfallen, ausgebeutet und umgebracht, ja sogar gefoltert werden konnten.

In einem Gerichtsprozess zu Foltervorwürfen gegenüber der Kolonialmacht USA gab der „Experte“ John Foreman 1898 zu Protokoll, dass die eigentlich sanftmütigen Europäer sich gezwungen sahen, Filipinos und andere Menschen nicht-europäischer „Rassen“ zu foltern, weil diese perfiderweise anderes Verhalten als Zeichen von Schwäche interpretierten. Das koloniale Denken erlaubte es den Tätern also, die Schuld auf die Gefolterten zu schieben. Knapp fünf Jahrzehnte später sprach Truman gegenüber denselben „barbarischen“ Völkern von Hilfe und Partnerschaft. Woher dieser Sinneswandel? Was war passiert zwischen 1901 und 1949?

Im wesentlichen zwei Dinge: das Erstarken von Arbeiterbewegungen und das Erstarken antikolonialer Bewegungen, bis hin zu Revolutionen. Beides brachte die USA dazu, die Beziehungen zum Süden vollkommen anders zu konzipieren und ihm „Entwicklung“ zu versprechen – nach dem Motto: „Ihr müsst nicht gleich den Kapitalismus abschaffen, ihr könnt auch so zu Wohlstand gelangen, und wir helfen euch dabei!“ So wurde das alte, vor allem durch die Anwendung der Nazi-Rassenpolitik diskreditierte Kolonialismusprogramm durch ein Neues ersetzt, das die Aufrechterhaltung einer kolonialen Arbeitsteilung und den Zugriff auf die Rohstoffe des Südens weiterhin ermöglichte.

Dass das keine Verschwörungstheorie ist, wird durch Truman selbst illustriert, der in seiner Rede darauf hinwies, dass es bei „Entwicklung“ auch um Investitionen der US-Wirtschaft ging. Nur sah er dabei keinen Widerspruch zur Armutsbekämpfung. Die zugrunde liegende Annahme ist simpel: „Entwicklung“ ist eine Win-win-Lösung, die Unternehmen des Nordens können im Süden Geschäfte machen und gleichzeitig führen ihre Investitionen zu Wirtschaftswachstum, Industrialisierung und Armutsbekämpfung. Oder zumindest wurde dieser Zusammenhang propagiert, um die Entstehung sozialistischer Gesellschaften in den unabhängig werdenden Ländern des globalen Südens zu verhindern. Das heißt: Entwicklungspolitik entstand, um die kapitalistische Weltordnung durch das Versprechen von Wohlstand für alle zu legitimieren. Gerade nach der Delegitimierung des Kolonialismus.

Die Erzählung der „Unzivilisierten“ wurde umgedichtet zu einer der „Unterentwickelten

Die Mission der „Zivilisierung der Unzivilisierten“ wurde so abgelöst durch die der „Entwicklung der Unterentwickelten“. Nur, dass jetzt die Fähigkeit nichteuropäischer Völker zur Selbstregierung anerkannt wurde und ihre vermeintliche Rückständigkeit nicht mehr biologisch, sondern kulturell und technologisch erklärt wurde - und ein Aufholen damit denkbar. Das waren zentrale Unterschiede im Vergleich zum kolonialen Denken. Doch einige koloniale Elemente finden sich auch im neuen Programm.

Wie früher geht das Entwicklungsdenken von einer Skala aus, auf der sich Gesellschaften als verschieden weit fortgeschritten einordnen lassen, und die Industriegesellschaften Westeuropas und Nordamerikas stehen an der Spitze dieser Skala. Die eigene Gesellschaft gilt als ideale Norm und jede Abweichung wird als defizitär angesehen. Mehr noch: Andersheit wird grundsätzlich als Rückständigkeit interpretiert. Gesellschaftliche Probleme werden im Süden verortet („Unterentwicklung“), während das Wissen zu ihrer Lösung („Entwicklung“) im Norden zu finden ist.

Die Reihe

Live zu erleben ist Aram Ziai an diesem Donnerstag beim nächsten Termin der Reihe „Der utopische Raum“. Unter dem Titel „Wie im Westen, so auf Erden?“ erläutert er in einem Vortrag mit Diskussion seine Thesen. Es geht darum – so die Ankündigung –, „auf Alternativen zu hegemonialen Modellen von Wirtschaft, Politik und Wissen und auf ein Leben in Würde für alle“ zu setzen.

Die Veranstaltung beginnt am heutigen Donnerstag, 21. April, um 19 Uhr im Osthafenforum im Medico-Haus, Lindleystraße 15, in Frankfurt. Um das Tragen einer Maske und Beachtung der örtlichen Hygienevorschriften wird dringend gebeten. Zusätzlich ist der Abend im Livestream auf dem Youtube-Kanal von Medico international zu verfolgen.

Die Reihe „Der utopische Raum“ ist eine Kooperation von Medico international mit dem Institut für Sozialforschung und der Frankfurter Rundschau.

Eine weitere Folge erscheint am 12. Mai: Die Politikwissenschaftlerin Franziska Martinsen (Leibniz-Universität Hannover) referiert dann zum Thema „Menschenrechte als Weltbürger:innenrechte“. FR

Nun könnte mensch einwenden: Aber gibt es nicht wirklich Probleme im Süden, die dringend einer Lösung bedürfen? Und ist das Leben in Westeuropa nicht wirklich für die meisten Menschen ein weitaus angenehmeres?

Ja und ja. Aber erstens ist die Praktik, Fachleute aus dem Norden in Länder zu schicken, deren Sprache und Kultur ihnen weitgehend unbekannt ist, aber deren „Entwicklung“ sie vorantreiben sollen, nur durch den Glauben an einen universellen Prozess, der überall gleich abläuft, zu rechtfertigen – und in der Praxis unzählige Male diskreditiert worden. Sinnvolles interkulturelles Lernen wird durch eine Überlegenheitsattitüde erschwert.

Zweitens ist die Vorstellung, dass „wir“ in überlegenen Gesellschaften leben, hochgradig eurozentrisch: Wenn wir nicht auf die Standardindikatoren Wirtschaftsleistung, Lebenserwartung und Schulbildung schauen, sondern Faktoren wie Rassismus, Selbstmordraten, Zufriedenheit oder den ökologischen Fußabdruck miteinbeziehen, ist es nicht mehr weit her mit der Überlegenheit der modernen Industriegesellschaften. Hier wäre zu fragen, was der Norden vielleicht vom Süden lernen könnte.

Drittens ist der unbestreitbare materielle Reichtum dieser Gesellschaften im Vergleich zum Süden nur durch fünf Jahrhunderte systematische Ausplünderung im Rahmen des Kolonialismus zustande gekommen. Erst durch diesen massiven Ressourcenzufluss und die Auslagerung eines beträchtlichen Teils der landwirtschaftlichen Produktion im Rahmen der kolonialen Arbeitsteilung wurde die industrielle Revolution ermöglicht.

Insofern ist es völlig verquer, wenn sich die „weniger entwickelten“ Länder an den „entwickelten“ ein Beispiel nehmen sollen. Diese Vorstellung impliziert, dass jedes Land sich für sich alleine „entwickelt“ hat. Sie übersieht die zentrale Rolle des Kolonialismus als Vorbedingung ebenso wie die katastrophale und nicht verallgemeinerbare ökologische Bilanz der Industriegesellschaften. Mit anderen Worten: die imperiale Lebensweise der globalen Mittelklasse, die auf billige Arbeit und billige Rohstoffe in anderen Ländern aufbaut und zunehmend auch im Süden zu finden ist.

Wer es ernst meint mit dem Anti-Kolonialismus, muss auch Reparationen zahlen

Diese kolonialen und neokolonialen Beziehungen werden im Entwicklungsdenken oft ausgeblendet, ebenso wie die innergesellschaftlichen Machtverhältnisse. Hilfsorganisationen suggerieren, dass die Probleme durch einen Transfer von Kapital, Technologie oder Wissen zu lösen wären und „Entwicklung“ allen zugute komme (der Erdbeerkuchen, den alle mögen). Interessenskonflikte zwischen Eliten und Besitzlosen, Agrarmultis und Kleinbäuer_innen, Investoren und Gewerkschaften fallen unter den Tisch. Und so versucht die Entwicklungszusammenarbeit im Glauben an die Win-win-Lösungen seit Jahrzehnten, die Armut zu bekämpfen, ohne den Reichen weh zu tun – mit strukturell sehr bescheidenen Erfolgen. Dabei finanziert sie auch immer noch Infrastrukturprojekte, die Millionen Menschen jährlich ihrer Existenzgrundlage berauben, auf der Grundlage von Fortschrittsglauben, Expertenwissen und Treuhandschaft – der Idee, dass manche Menschen besser Bescheid wissen, wie das Leben der vermeintlich weniger Entwickelten verbessert werden kann, als diese selbst. Das Wissen von der „Entwicklung“ ist so gesehen das Wissen über die vermeintlich defizitären Lebensweisen Anderer und ihre notwendige Veränderung.

Aram Ziai ist Politikwissenschaftler und Professor an der Universität Kassel. Er leitet das Fachgebiet Entwicklungspolitik und Postkoloniale Studien. 2021 ist im Nomos-Verlag das Buch „Dekolonisierung der Entwicklungszusammenarbeit und Postdevelopment-Alternativen – AkteurInnen, Institutionen, Praxis“ erschienen, das Ziai mit Julia Schöneberg herausgegeben hat. Bild: Privat
Aram Ziai ist Politikwissenschaftler und Professor an der Universität Kassel. Er leitet das Fachgebiet Entwicklungspolitik und Postkoloniale Studien. 2021 ist im Nomos-Verlag das Buch „Dekolonisierung der Entwicklungszusammenarbeit und Postdevelopment-Alternativen – AkteurInnen, Institutionen, Praxis“ erschienen, das Ziai mit Julia Schöneberg herausgegeben hat. © privat

Aber hat die Entwicklungspolitik im 21. Jahrhundert nicht dazugelernt? Haben die Millennium-Entwicklungsziele nicht die Halbierung der Armut erreicht? Und ist Nachhaltigkeit nicht seit 2015 verbindliches Ziel der Staatengemeinschaft geworden? Auch hier ist ein Blick auf die kritische Forschung ernüchternd: Die Partizipation der Betroffenen von Entwicklungsprojekten ist meist strukturell begrenzt durch die Kontrolle und das Interesse der Geber:innen.

Die Halbierung der Armut wurde erreicht durch statistische Manipulationen einerseits und die Erfolge der autoritären und staatsinterventionistischen Volksrepublik China andererseits. Und die „Sustainable Development Goals“ haben weder den Ressourcenverbrauch und CO2-Ausstoß der Industriegesellschaften eingeschränkt noch die massiven Finanztransfers aus dem Süden in den Norden groß beeinträchtigt.

Moment, Finanztransfers aus dem Süden in den Norden? Ja, denn den Entwicklungshilfe-Transfers von etwa 100 Milliarden US-Dollar jährlich in den Süden stehen durch Freihandelsimperialismus, die Zahlung von Schuldendienst, irreguläre Finanztransfers von Eliten und die Repatriierung von Gewinnen durch multinationale Konzerne Geldflüsse in umgekehrter Richtung gegenüber, die jeweils (!) ein Mehrfaches der erwähnten Summe betragen. Bei einem Netto-Transfer von mindestens 1000 Milliarden US-Dollar jährlich von den armen in die reichen Länder stellt sich die Frage, wie diese Weltordnung anders zu bezeichnen ist denn als neokolonial.

Wenn es der Entwicklungspolitik ernst ist mit der Armutsbekämpfung, müsste sie diese weltwirtschaftlichen Strukturen verändern. Wenn es ihr ernst ist mit der Nachhaltigkeit, müsste die imperiale Lebensweise beendet werden. Wenn es ihr ernst ist mit der Absage an autoritäre Treuhandschaft, müssten Rechenschaftsmechanismen wie das Inspection Panel der Weltbank geschaffen beziehungsweise gestärkt werden. Wenn es ihr ernst ist mit der Absage an Eurozentrismus, müsste sie Wissen und Wirtschaftsweisen aus dem Süden ernst nehmen und fragen, was wir von ihnen lernen können. Wenn es ihr ernst ist mit der Zurückweisung des Kolonialismus, müsste sie anfangen, Reparationen zu zahlen.

Wenn Entwicklungspolitik all das nicht tut, bleibt sie auch in der Zukunft im Wesentlichen das, was sie schon 1949 war: Symbolpolitik und Trostpflaster, das eine bessere Welt verspricht, um eine ungerechte kapitalistische Weltordnung aufrechtzuerhalten. (Aram Ziai)

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