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Die Linke: „Dass Wissler wieder kandidiert, zeugt von Realitätsferne“

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Von: Baha Kirlidokme

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Februar 2021 hatten sie noch zu lachen: Wissler und Hennig-Wellsow nach ihrer Wahl an die Spitze. Foto: Tobias Schwarz / AFP.
Februar 2021 hatten sie noch zu lachen: Wissler und Hennig-Wellsow nach ihrer Wahl an die Spitze. Foto: Tobias Schwarz / AFP. © AFP

Wahlschlappen, Rücktritte und sexuelle Übergriffe in der Partei: Die Linkspartei steckt tief in der Krise– und hat doch erhebliche Potenziale. Eine Analyse von Baha Kirlidokme.

Berlin - Wahlniederlagen, interner Streit, sexuelle Übergriffe – die Linkspartei erlebt womöglich die heftigste Krise seit ihrer Gründung 2007. Dabei wäre ihr Potenzial beachtlich: rund 18 Prozent der Wahlberechtigten in Deutschland könnten sich vorstellen, die Partei zu wählen. Diesen Wert hat das Meinungsforschungsinstitut Kantar im Auftrag der Rosa-Luxemburg-Stiftung in einer Befragung ermittelt. Die Stiftung steht der Linkspartei nahe. Doch warum ist dieses Wähler:innenpotenzial ungenutzt?

Eine Erkenntnis ist, dass die Linkspartei laut Befragung sozialistischer werden muss, ganze 54 Prozent der Befragten wünschen sich das. Bei Frauen und jungen Menschen ist die Zahl sogar höher. Dabei bleibt unklar, wie dieser Sozialismus aussehen soll. Tatsächlich lässt sich in einigen Bereichen feststellen, dass die Partei eine Sozialdemokratisierung durchgemacht hat. So trägt sie beispielsweise in der rot-grün-roten Berliner Landesregierung die wohnkonzernfreundliche Politik der regierenden SPD-Bürgermeisterin Franziska Giffey mit, die den Volksentscheid „Deutsche Wohnen und Co. enteignen“ trotz Mehrheit nicht umsetzen oder zumindest verwässern möchte. Die Berliner Linkspartei hatte „DW enteignen“ davor noch unterstützt.

Die Linkspartei hat die meisten Stimmen an die SPD verloren

Auch sind ihre Forderungen im Bundestagswahlkampf nah an der SPD gewesen. So hat die Linkspartei beispielsweise eine Erhöhung des Mindestlohns auf 13 Euro gefordert, also einen Euro mehr als die Forderung der Sozialdemokrat:innen, die genauso wie der Deutsche Gewerkschaftsbund zwölf Euro forderten. Der Blick auf die Wähler:innenwanderung bei der Bundestagswahl zeigt: Die Linkspartei hat die meisten Stimmen an die SPD verloren.

Für die meisten Befragten der Rosa-Luxemburg-Stiftung ist die soziale Frage das wichtigste Thema, gefolgt von der ökologischen. Vor allem Anhänger:innen von SPD und Grünen gaben das an. Die Linkspartei möchte deshalb stärker als sozial-ökologische Partei wahrgenommen werden. Aber warum sollten Wähler:innen sie wählen, wenn sie auch das Original haben können?

Politologe: Linkspartei Opfer ihres eigenen Erfolgs

Hendrik Träger ist Politikwissenschaftler an der Universität Leipzig. Für ihn ist die Linkspartei, wenn überhaupt, nur bedingt sozialdemokratischer geworden. „Bei der vorletzten Bundestagswahl hat sie zusätzliche Stimmen vor allem von früheren SPD-Wählern bekommen. Diese sind 2021 wieder zurückgekehrt, weil die SPD eine realistische Regierungsperspektive hatte.“

Die Linkspartei sei eher Opfer ihres eigenen Erfolgs, so Träger wohlwollend. „Als erste Partei in Deutschland war sie beispielsweise für einen Mindestlohn. Dieser wurde dann sogar von einer konservativen Regierung eingeführt“, sagt der Politikwissenschaftler. Nun kann die Linkspartei bei dem Thema also nur noch für eine Erhöhung des Mindestlohns plädieren. Das wirkt nach außen weniger stark. Es sind also wieder Ideen gesucht, die im bürgerlichen Deutschland groß wirken.

„Dass Wissler wieder kandidiert, zeugt von Realitätsferne“

Laut Träger fehle ein Alleinstellungsmerkmal. Das könnten beispielsweise Enteignungen großer Wohnungsunternehmen sein, gibt die Parteivorsitzende Janine Wissler bei der Vorstellung der Befragung mit der Stiftung wider. Personell müsse sich laut Träger aber auch viel ändern. Die Streitigkeiten zwischen dem reformistischen Ost-Flügel und dem orthodoxen West-Flügel würden viele abschrecken.

Die Personalfrage sei laut Stiftung für potenzielle Wähler:innen der Linkspartei weniger entscheidend. Dem widerspricht Träger aber mit Blick auf die aktuellen Vorwürfe sexueller Übergriffe vehement. Neben anderen wollen der Bundestagsabgeordnete und Direktmandatgewinner Sören Pellmann und wieder Janine Wissler für den Vorsitz kandidieren. Kommenden Monat wird der Vorsitz auf dem Bundesparteitag in Erfurt gewählt. Wissler, deren Ex-Freund sich mit Vorwürfen konfrontiert sieht, wird vorgeworfen, spät oder ungenügend gehandelt zu haben, obwohl sie schon früh Bescheid gewusst haben soll.

Pellmann, der dafür kritisiert wird, dass er in jüngster Vergangenheit Wissler verteidigt hat, sei weniger ein Problem, da er in die Vorwürfe nicht involviert zu sein scheint. „Doch dass Wissler wieder kandidiert, zeugt von Realitätsferne“, sagt Träger. Eigentlich hätte sie statt der Co-Vorsitzenden Hennig-Wellsow zurücktreten müssen. Durchaus möglich also, dass die Wahl in Erfurt für die Linkspartei zum Schicksalstag werden könnte. (Baha Kirlidokme)

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