„Die Insel lebt“: Kaliningrad gibt sich unbeeindruckt von Litauens Teil-Blockade

Litauen schränkt gemäß den europäischen Sanktionen den Bahntransporte nach Kaliningrad ein. Moskau reagiert erbost und droht mit drastischen Schritten – vor Ort überwiegt Gelassenheit.
Anton Alichanow, 35, Gouverneur des Gebiets Kaliningrad, ist eines der jüngsten russischen Regionalhäupter, einer, der schon mit dem Fahrrad zur Arbeit gekommen ist. Was die „Blockade“ angeht, reagierte Alichanow pragmatisch. Die Entscheidung Litauens, einen Teil der russischen Bahntransporte in die Region Kaliningrad nicht mehr passieren zu lassen, sei ein grober Verstoß gegen die Verträge zwischen EU und Russland, erklärte er via Telegram-Video. Man werde darauf dringen, dass die europäischen Nachbarn ihr Verhalten ändern. Wenn das nicht rasch gelinge: „Wir sind schon jetzt dabei, neue Schiffe auf der Ostsee bereitzustellen.“ Sie würden die unter die EU-Sanktionen fallenden Waren künftig aus dem Leningrader Gebiet in den Kaliningrader Hafen Baltijsk schaffen.
Seit Freitag verweigert Litauen russischen Zügen, die Baumaterial, Metalle und Hochtechnologie aus Russland in Russlands Kaliningrader Exklave bringen, die Durchfahrt. Laut Alichanow betrifft das zwischen 40 und 50 Prozent des Schienengüterverkehrs durch Litauen.
Moskau droht: „Wird ernsthafte negative Auswirkungen geben“
Moskau reagierte deutlich grimmiger als der Gouverneur in Kaliningrad. Kremlsprecher Dmitri Peskow sprach von einem Verstoß gegen „alles und jedes“. Erst bestellte man die lettische Bevollmächtigte, dann den EU-Botschafter ins russische Außenministerium ein. Dessen Sprecherin Maria Sacharowa drohte Litauen und dem Westen „bedauerliche Folgen“ an. Diese könnten russische Lieferungen nicht nur in, sondern auch durch die EU-Länder betreffen und die Lebensmittelsicherheit weltweit in Frage stellen. Nikolai Patruschew, Sekretär des russischen Sicherheitsrates, klagte, die Lage in der baltischen Region sei von einer Massierung der Nato-Streitkräfte und vom beispiellosen politischen, informativen und wirtschaftlichen Druck des Westens geprägt. Auf „feindselige Handlungen“ wie die Teilfrachtblockade Kaliningrads werde Russland unbedingt reagieren. „Es wird ernsthafte negative Auswirkungen für die Bevölkerung geben.“
Litauen zeigt sich bisher unbeeindruckt. Man folge mit dem Teilverbot für Kohle, Stahl, Baustoffe und Hightech dem vierten EU-Sanktionspaket gegen Russland, hieß es aus Wilna, das am 17. Juni in Kraft getreten sei.
„Zwingt zur umgehenden Selbstverteidigung“
Schon wird die Region Kaliningrad, bis 1945 Ostpreußen, als mögliches Schlachtfeld gehandelt. Der russische Senator Andrej Klimow schimpft, die Nato habe mittels einer seiner Mitgliedsländer die nicht hinnehmbare Blockade eines Subjekts Russlands begonnen. „Die kann man als direkte Aggression gegen Russland bewerten, die uns buchstäblich zur umgehenden Selbstverteidigung zwingt.“ Rhetorik wie kurz vor dem Beginn der Kampfhandlungen in der Ukraine. Auch der in Moskau lebende ukrainische Ex-Diplomat Rostislaw Ischtschenko bezeichnet das litauische Vorgehen als selbstmörderisch. Weil das „ein fertiger Grund“ für eine Eskalation sei. Das internationale Recht garantiere jedem Staat Zugang zu seinen Exklaven und werte jedes Hindernis als Aggression.
Kaliningrad ist keine wirkliche Exklave, weil es eine offene Meerverbindung zu Russland besitzt. Aber Alexander Nossowitsch, Kaliningrader Politologe, redet schon davon, eine vollständige Blockade werde den Einsatz russischer Atomwaffen rechtfertigen. Der Duma-Abgeordnete Oleg Morosow denkt laut über den „Suwalki-Korridor“ nach. Um ihn zu öffnen, müssten russische Truppen die 66 Kilometer schmale „Suwalki-Lücke“ zwischen dem Gebiet Kaliningrad und Belarus entlang der litauisch-polnischen Grenze einnehmen, dann wären Litauen, Lettland und Estland, also alle drei baltischen Nato-Staaten, isoliert. Es wird auch spekuliert, Russlands Luftstreitkräfte könne den Luftraum über Litauen kapern, und Kaliningrad mittels Frachtmaschinen versorgen.
Bislang verzichtet Russland auf Truppen an der Grenze zu Litauen
Propaganda-Russland plant lautstark Feldzugvarianten. „Wie gut, dass wir in der Ukraine nur 15 Prozent unserer Truppen einsetzen“, trumpft TV-Moderator Wladimir Solowjow auf. Allerdings fordern oppositionelle Militärfachleute wie der Nationalist Igor Strelkow eine Mobilmachung, um in der Ukraine endlich die nötige Übermacht für den Sieg zusammenbekommen. Die Ist-Stärke der russischen Armee ist zurzeit ungewiss. Vielleicht auch deshalb verzichtet Moskau bisher darauf, Truppen an den Grenzen zu Polen und Litauen aufmarschieren zu lassen.
In Kaliningrad herrscht keineswegs Endzeitstimmung. Man habe eigenen Strom und eigene Lebensmittel, schreibt Gouverneur Alichanow. Treibstoff, Zement, Kohle, sowie Metalle kämen über den Seeweg. Touristen gäbe es auch. „Die Insel lebt. Die beste Festungsanlage des Landes, mit Blick aufs Meer.“