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Wahlen in der Türkei: Herausforderer Kiliçdaroglu kann gewinnen

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Von: Yağmur Ekim Çay

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Kilicdaroglu (r.) bei der türkischen Linken Partei „Sol“.
Kilicdaroglu (r.) bei der türkischen Linken Partei „Sol“. © Adem Altan/afp

Die Opposition in Ankara bietet bei der Präsidentschaftwahl gegen den Amtsinhaber Kemal Kiliçdaroglu auf – und der kann gewinnen. Eine Analyse von Yağmur Ekim Çay

Vorige Woche beherrschten noch Diskussionen das türkische Oppositionsbündnis, das eigentlich einen Gegenkandidaten für den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan für die anstehenden Wahlen suchte. An diesem Montag aber fiel dann doch die Entscheidung: Der CHP-Vorsitzende Kemal Kiliçdaroglu kandidiert für das Bündnis. Und kann damit höchstwahrscheinlich der nächste türkische Staatspräsident werden.

Seit 2010 an der Spitze der Sozialdemokraten, ist der 74-jährige Kiliçdaroglu aus der alevitischen Stadt Tunceli (kurdisch: Dersim) in Ostanatolien ein bekanntes Gesicht in der türkischen Politik. Im Bündnis für die Wahl warfen Politiker:innen der nationalistischen Iyi-Partei ihm vor, kein „fähiger Politiker“ zu sein wie der Bürgermeister von Istanbul, Ekrem Imamoglu, und dessen Kollege aus Ankara, Mansur Yavas. Eine Kandidatur von Kiliçdaroglu sei nicht so erfolgversprechend wie eine der Bürgermeister. Aber stimmt das?

Eigentlich will das Oppositionsbündnis im Falle seines Sieges das von Erdogan geführte Präsidialsystem abschaffen und zu einem parlamentarischen System zurückkehren. In einem solchen System hätte der Präsident nur noch eine repräsentative Rolle. Deshalb ist eine Kandidatur von erfolgreichen Politikern wie Imamoglu und Yavas nicht sehr sinnvoll: Die beiden Politiker sind noch jung und sie sind dabei, die größten Städte der Türkei umzugestalten und das Gesicht der Türkei zu verändern – dort können sie viel mehr umkrempeln als in einer symbolischen Rolle als Präsident.

Wahlen in der Türkei: Gute Chancen nach dem Erdbeben

Zutreffend an der Kritik der Iyi-Partei ist, dass die CHP unter Kiliçdaroglu mehrere Wahlen gegen Erdogan verloren hat und dass er in der Vergangenheit mehrfach Fehler gemacht hat, beispielsweise, als er die Zusammenarbeit mit den Rechten suchte – anstatt mit den Linken. Doch in den vergangenen Jahren als Oppositionsführer hat er viel gelernt und in kritischen Momenten richtig reagiert. 2017 lief er 400 Kilometer von Ankara nach Istanbul bei einem „Gerechtigkeitsmarsch“ für eine unabhängige Justiz und brachte dabei mehrere linke Gruppierungen zusammen. Bei den jüngsten Kommunalwahlen gewann denn auch die CHP 2019 in elf Städten, darunter Istanbul, Ankara und Izmir – das befeuerte die Hoffnung auf eine Veränderung im ganzen Land.

Trotz früherer Fehler scheint Kiliçdaroglu der beste Kandidat für die Präsidentschaftswahlen. Sein Konkurrent ist ein aggressiver Erdogan, der eine spalterische, aggressive Politik betreibt. Auch nach dem Erdbeben in der türkisch-syrischen Grenzregion ließ er davon nicht ab. Die türkische Gesellschaft braucht keinen schimpfenden Präsidenten. Sie braucht vor allem nach dem Erdbeben und in der Wirtschaftskrise jemanden, der Verständnis und Empathie zeigt, der Hoffnung gibt. Jemand, der die Menschen versteht, ihnen zur Seite steht.

Genau das kann und tut der „Gandhi Kemal“, wie Kiliçdaroglu auch genannt wird, mit seiner ruhigen, bescheidenen und positiven Art. Sein Name wurde in all den Jahren nie mit Skandalen in Verbindung gebracht – so etwas zählt in der türkischen Politik. Als Kind einer armen alevitischen Familie aus Dersim ist er den Menschen, die unter Armut leiden, viel näher als Erdogan in seinem 1000-Zimmer-Palast.

Auch die jüngsten Streitereien um den Austritt der nationalistischen Iyi-Partei aus dem Bündnis zeigen, dass Kiliçdaroglu aus seinen Fehlern gelernt hat – er steht hinter seinen Entscheidungen, tritt sicherer auf und will nun auch die Linken für sich gewinnen. Der Sozialdemokrat bewahrt seine Haltung und er ist der einzige in diesem Rechtsbündnis, der Stimmen von den Linken bekommen kann. Er tut das, was schon längst getan werden musste – schon am Freitag, als die Iyi-Partei das Bündnis verließ, besuchte er lieber die linken Bündnisse und Parteien. „Wir werden unseren Tisch weiter wachsen lassen. Mit Geduld.“

Wahlen in der Türkei: „Auf geht’s, Herr Kemal!“

Nach all den Jahren weiß Kiliçdaroglu auch, dass die Alternative zu Erdogan nicht unter den Rechten, sondern bei den Linken zu finden ist. Wie zur Bestätigung zeigt sich der im Gefängnis sitzende kurdische Politiker Selahattin Demirtas solidarisch: „Seite an Seite. Vereinige uns, versöhne uns und lass uns dieses zerstörte Land wiederaufbauen. Wir haben keine andere Wahl, wir werden es schaffen!“ Das darf als eine historische Botschaft von einem der wichtigsten kurdischen Stimmen dieser Zeit gewertet werden.

Symbolisch wichtig ist auch, dass Kiliçdaroglu Alevit ist. Das mag viele Rechte stören – oder verstören, doch die Türkei wird ihren ersten alevitischen Präsidenten wählen. In den sozialen Medien nennen ihn viele bereits „Piro“ (Feuer) – in kurdischen, alevitischen Gebieten heißt das „Freund“. Es gilt also zu gewinnen und der Türkei eine Zukunft zu geben. Wie Selahattin Demirtas sagt: „Auf geht’s, Herr Kemal!“

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