Brexit: Die ganz vorsichtige Annäherung

Die britische Regierung und die EU-Kommission erzielen eine Einigung im jahrelangen Streit um das Nordirland-Protokoll. Die Audienz beim König wird zum Politikum.
Nach monatelangen Verhandlungen haben sich Großbritannien und die EU auf eine neue Vereinbarung über den Status von Nordirland geeinigt. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und der britische Premier Rishi Sunak unterzeichneten das mehr als 100 Seiten starke Dokument nach einem kurzen Abschlussgespräch am Montag in Windsor, westlich von London. Es handle sich um „ein wirklich fantastisches Resultat für alle Beteiligten“, sagte Nordirland-Staatssekretär Steve Baker. Unklar bleibt, ob der Deal auch die Zustimmung der Brexit-Fraktion in der konservativen Regierungspartei finden wird.
Während von der Leyen am Nachmittag auf Schloss Windsor bei König Charles III. zum Tee eingeladen war, fuhr Sunak nach London zurück, wo er am Abend dem Unterhaus Rede und Antwort stehen wollte. Die Augen der Torys sowie des gesamten Parlaments waren dabei vor allem auf zwei am Brexit gescheiterten Amtsvorgänger des Premiers gerichtet. Während Theresa May den Parteivorsitzenden unterstützen dürfte, ließ Boris Johnson schon vorab an seiner Skepsis keine Zweifel.
Brexit-Streit über Zoll- und Einfuhrkontrollen
Anders als von Johnson stets behauptet machte nämlich das von ihm unterzeichnete Nordirland-Protokoll die Handelsbarrieren zwischen dem britischen Teil Irlands und der britischen Insel zwingend notwendig. Die gleichzeitig mit dem Austrittsvertrag vereinbarte Sonderregelung soll den Frieden in der einstigen Bürgerkriegsregion wahren. Deshalb bleibt die Landgrenze zur Republik im Süden offen. Um den Binnenmarkt zu schützen, wurden zwischen Nordirland und Großbritannien Zoll- und Einfuhrkontrollen fällig, was die protestantischen Gruppen verärgert.
Zum Selbstverständnis des protestantischen Bevölkerungsteils gehört seit jeher eine Belagerungsmentalität. Vor dem Brexit war es nur die Republik Irland, danach die EU mit ihrer Seegrenze – und bei Gelegenheit ist es immer London. Die größte Ulster-Partei DUP verweigert seit mehr als einem Jahr die Beteiligung an der Belfaster Allparteien-Regierung, was die Provinz unregierbar macht. Als einzige größere Partei befürwortete die aus einer fundamentalistischen Sekte hervorgegangene Gruppierung 2016 den Brexit und befand sich damit in der Minderheit – 56 Prozent der Provinz wollten in der EU bleiben.
Brexit-Ultras schauen genau hin
Geduldig hat EU-Chefverhandler Maros Sefcovic mit London einen tragfähigen Kompromiss ausgehandelt. Zukünftig soll es für die Wareneinfuhr aus Großbritannien nach Nordirland zwei Wege geben: Was für den Verbrauch im britischen Nordosten Irlands gedacht ist, wird nur noch in Sonderfällen kontrolliert. Hingegen bleibt es bei den Kontrollen für Waren, die in die Republik und damit den EU-Binnenmarkt weitergeleitet werden. Die britischen Behörden ermöglichen nun den automatischen Datenaustausch mit der EU. Zudem wird die sogenannte Trusted-Traders-Regelung bewährten und als integer eingestuften Firmen das Leben erleichtern.
Besonders genau werden DUP-Chef Jeffrey Donaldson und seine Leute sowie die konservativen Brexit-Ultras jene Passagen des neuen Dokuments lesen, die von der Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofs handeln. Dessen Wächteramt über den Binnenmarkt soll dem Vernehmen nach pragmatisch gehandhabt werden: Bei Streitfragen wären zunächst nordirische Gerichte zuständig. Diese könnten dann entscheiden, ob sie die Meinung des EuGH einholen wollen.
„Ein besonderer Teil des Vereinigten Königreichs“
Auf dem Weg ins Unterhaus hüllte sich Donaldson in Schweigen: Er wolle den Text erstmal genau studieren. Andere scheinen an Details weniger interessiert. Für die Brexit-Betonköpfe auf den Tory-Hinterbänken, die sich Europäische Reformgruppe (ERG) nennen, darf EU-Recht „ebenso wenig in Nordirland eine Rolle spielen wie in England, Schottland und Wales“, hat ERG-Chef Mark Francois der BBC erläutert und hinzugesetzt: „Wir sind ja nicht dumm.“
Da sind viele in Nordirland anderer Meinung. Die Vorsitzende der nicht konfessionellen Alliance-Party, Naomi Long, gibt den Brexiteers Nachhilfe-Unterricht: „Wir sind nun mal ein besonderer Teil des Vereinigten Königreichs.“ Auch unter den Torys sind sich viele der geografischen wie historischen Besonderheit der Provinz bewusst. Ex-Premier John Major beispielsweise tut die Beteiligung des EuGH als „winzig und gelegentlich“ ab. Dadurch werde die Demokratie nicht gefährdet. Diese Gefahr bestehe viel mehr darin, das Belfaster Parlament weiter zu blockieren: „Dann wird die Demokratie verschwendet.“
Von der Leyens Audienz bei Charles III. sorgte für Verstimmung
Jenseits des leidigen Nordirland-Problems soll die Vereinbarung Entspannung zwischen London und Brüssel befördern, die durch das gemeinsame Eintreten für die Ukraine bereits begonnen hat. Die Rede ist von Reiseerleichterungen für die hochpopulären britischen Rock- und Popbands, deren Tourneen auf dem Kontinent jetzt durch tiefes bürokratisches Gestrüpp führen. Auch eine Beteiligung der britischen Universitäten am Milliarden-schweren Horizon-Programm erscheint nun wieder am Horizont.
Von der Leyens Audienz bei Charles III. sorgte aber schon mal für Verstimmung, weil Brexit-Ultras die Politisierung des Königs fürchteten. Der Monarch treffe dauernd Besucher:innen „auf Anraten der Regierung“, beschied der Buckingham-Palast. Der Verfassungshistoriker Philip Murphy von der Londoner Universität UCL erinnerte an die Konvention, wonach die Regierung das Staatsoberhaupt vor Peinlichkeiten bewahren soll. Die Audienz beinhalte „das Risiko, den König in eine politische Kontroverse zu verwickeln“.