Die Erfindung des „Restrisikos“

Atomkraftwerke durften nicht gefährlich wirken. Deswegen wurde für die von ihnen ausgehenden Unwägbarkeiten zu einem semantischen Trick gegriffen.
Sind Atomkraftwerke gefährlich? Sie haben nur ein „Restrisiko“, lautete lange das Argument ihrer Befürworter. Das Wort tauchte Anfang der 70er-Jahre erstmals auf. Es stammt vom parteilosen Wissenschaftsminister der sozialliberalen Koalition, Hans Leussink. Benutzt wurde es später als semantischer Trick. „Rest“-Risiko sollte vorgaukeln, die Gefahr eines nicht mehr beherrschbaren Unfalls in einem AKW mit massiver Freisetzung von Strahlung – eines „Super-GAU“ (Größter Anzunehmender Unfall) – sei wegen seiner geringen Wahrscheinlichkeit tolerabel.
Leussink hatte „Restrisiko“ in der Debatte über ein Projekt des Chemiekonzerns BASF geprägt, der auf eigenem Gelände in Ludwigshafen einen 600-Megawatt-Reaktor bauen wollte, um seine Fertigungsprozesse preiswerter zu machen. Die Anlage wäre aber in unmittelbarer Nähe der Stadt entstanden, und damit stellte sich die Sicherheitsfrage. In Deutschland hatte man, ebenso wie im nuklearen Vorreiterland USA, bis dahin Reaktoren wegen ihrer Strahlengefahr nur in mäßig besiedelten Regionen geplant.
Der BASF-Plan befeuerte die Risikodebatte in der Fachwelt, dann aber auch in der Politik. Für einen regelrechten Schock sorgten die Warnungen des Kernphysikers Karl-Heinz Lindackers zu den Folgen einer Atomkatastrophe: bis zu 100 000 Menschen auf der Stelle tot, weitere Opfer durch die freigesetzte Radioaktivität noch 20 Jahre später, in Summe bis zu 1,6 Millionen. Ein gravierendes „Restrisiko“ also. Leussink verschob die Entscheidung über den BASF-Plan. Der Konzern gab ihn 1973 auf.
Mit einer eigenen Risikoforschung begann das Forschungsministerium erst 1971, als die ersten Leistungsreaktoren in Stade und Würgassen bereits im Probebetrieb, respektive im Bau waren. 1979 erschien die umfangreiche „Deutsche Risikostudie Kernkraftwerke“. Ergebnis: Ein Super-GAU sei in einem Reaktor einmal in 10 000 Betriebsjahren zu erwarten. Das war bei weitem nicht ein so kleiner „Rest“, wie es schien, zumal kritische Instanzen wie das Öko-Institut die Berechnungen als geschönt anzweifelten. Immerhin plante der Bund damals, rund 50 Reaktoren zu bauen, was einen Super-GAU bereits alle 200 Jahre bedeutet hätte – und vielleicht schon morgen.
Dass Atomkatastrophen in AKW kein „Restrisiko“ sind, hat die Geschichte bewiesen. 1957 kam es zu einem Brand im britischen Reaktor Windscale-Sellafield, der zur Erzeugung von Plutonium für Atombomben genutzt wurde; die Umgebung wurde weiträumig verstrahlt. 1979 begann dann die Reihe von „Rest“-Ernstfällen, die das Ende der Risiko-Ignoranz einläuteten: zuerst die Fast-Katastrophe im US-AKW Harrisburg mit einer teilweisen Kernschmelze, 1986 dann der erste Super-GAU in Tschernobyl und 2011 der zweite im japanischen Fukushima.
In Deutschland kam es in den über 50 Jahren AKW-Betrieb zum Glück zu keiner Atom-Katastrophe. Allerdings gab es mehrere schwere Störfälle, die hätten eskalieren können. Im bayerischen Gundremmingen A führten 1977 Probleme nach einem Kurzschluss und einer Schnellabschaltung dazu, dass das Reaktorgebäude bis drei Meter hoch mit Wasser geflutet und radioaktiv verseucht wurde; der Reaktor wurde wegen zu teurer Sicherheitsauflagen stillgelegt. Im hessischen AKW Biblis kam es 1987 gar zu einem Beinahe-GAU, als die Reaktorfahrer eine Warnlampe übersahen, Ventile manipulierten und so den Verlust der Reaktorkühlung riskierten. Der Vorfall wurde erst ein Jahr später durch ein Fachblatt aufgedeckt und in der Frankfurter Rundschau der breiteren Öffentlichkeit bekannt.
Im schleswig-holsteinischen Atomkraftwerk Brunsbüttel ereignete sich 2001 eine Knallgas-Explosion, als eine Rohrleitung in unmittelbarer Nähe des Reaktors zerbarst. Folge war ein Kühlwasserverlust. Der Reaktor blieb zwei Jahre abgeschaltet. Ein weiterer Störfall 2007 sorgte dann für die komplette Stilllegung der Anlage.
Diese und weitere Störfälle standen in den Schlagzeilen. Nach der Katastrophe von Fukushima im Jahr 2011 taten viele Konservative trotzdem so, als falle es ihnen wie Schuppen von den Augen, dass so etwas auch in Reaktoren westlicher Bauart geschehen könne. Allen voran die Physikerin und Kanzlerin Angela Merkel (CDU). Man könne die „bisherige unbestrittene Sicherheit unserer kerntechnischen Anlagen“ nicht mehr zugrunde legen, sagte sie. Und verabschiedete sich damit von der „Restrisiko“-Theorie.
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