Die Brücke am Dnipro: Anzeichen für die Frühjahrsoffensive verdichten sich

Russlands Generäle rätseln, wo genau die Ukraine ihre Frühjahrsoffensive starten könnte. Aktuell liegt der Fluss Dnipro im Fokus.
Cherson – Die Ukrainer wären erfolgreich gelandet und hätten sich an einer Bootsanlegestelle nahe der Antonow-Brücke festgesetzt, schon seit Wochen, schimpft der russische Militär-Blogger Rybar auf Telegram. „Dank unserer Lahmarschigkeit haben die Feinde eine stabile Nachschublinie eingerichtet, sammeln Kräfte, bringen Proviant und Munition heran.“
Russlands Telegram-Krieger:innen ärgern sich über die Landung ukrainischer Truppen auf dem linken, südöstlichen Ufer des Dnipros bei Cherson. Auch ukrainische Quellen bestätigen, dass eigene Einheiten auf dem linken Ufer operieren. Das in der westlichen Öffentlichkeit maßgebliche US-Institut für Kriegsforschungen ISW machte den ukrainischen Brückenkopf südlich der halb zerstörten Antonow-Brücke quasi amtlich: Geolokalisiertes Filmmaterial des russischen Telegramkanals „Saporoschnyj Front“ habe bewiesen, dass die Ukrainer bis zum Nordrand des Städtchens Oleschky vorgedrungen seien, 3,7 Kilometer vom Dnipro-Ufer entfernt.
Die ersten westlichen Medien spekulieren, ob die Ukrainer mit der Flußüberquerung ihren seit Monaten debattierten Großangriff klammheimlich schon gestartet haben. „Die russischen Kräfte, die das Ostufer monatelang besetzt hielten“, schreibt die Times, „sehen einer beginnenden Gegenoffensive entgegen!“
Ukrainische Truppen am Fluss Dnipro: Ein „unwesentlicher Brückenkopf“?
In Kiew dagegen kommentiert man die Neuigkeiten vom Dnipro vorsichtig. Ukrainische Quellen der BBC bestätigten, die eigenen Streitkräfte führten „bestimmte Bewegungen über den Dnipro bei Cherson“ aus. Aber der Parlamentarier Sergij Rachmanin bemühte sich gegenüber Radio NV um Understatement: Die Information sei nicht neu und keine Riesensache. „Es geht um einen unwesentlichen Brückenkopf, aus dem man eine große Angriffsoperation nur sehr schwer durchführen kann. Aber wenigstens gibt es einen Brückenkopf, es gibt etwas, was man verteidigen oder ausbauen kann“.
Natalja Gumenjuk, Sprecherin der Truppen im ukrainischen Südabschnitt, beschwerte sich, die Veröffentlichungen über den Brückenkopf hätten den Feind zu Feuerüberfällen auf Cherson und andere Orte am rechten Ufer provoziert. Dabei seien 30 Häuser zerstört und Zivilist:innen verletzt worden. „Militäroperationen bedürfen Informationsstille.“
In der Region Cherson sollen sich die schwächsten Truppen Russlands befinden
Der Kiewer Militärexperte Oleksij Melnyk sagte unserer Zeitung, die ukrainischen Truppen hätten dem Gegner in den vergangenen Monaten schon zahlreiche Inseln im Dnipro-Delta bei Cherson streitig gemacht. Das Ostufer selbst sei Niemandsland. Und jetzt stehe dort nur eine kleine Zahl ukrainischer Soldaten. „Vielleicht handelt es sich um den Versuch, einen Brückenkopf einzurichten. Für den Fall, dass man den Fluss noch anderswo überqueren oder entlang des Ufers vorstoßen will. Dann ist zumindest ein bestimmtes Gebiet besetzt, was das Übersetzen von Verstärkung und Nachschub erleichtert.“
Aber es sei zu früh, darüber zu sprechen, dass an einem konkreten Ort ein Brückenkopf für einen Hauptvorstoß vorbereitet werde. Die Entfernung von Oleschky bis zum Schwarzmeerufer beträgt keine 60 Kilometer Luftlinie. Laut ISW steht in der Region Cherson die zahlenmäßig und organisatorisch schwächste russische Gruppierung. Das ukrainische Oberkommando mag darauf aus sein, ihren westlichen Flügel durch einen schnellen Vorstoß nach Süden bis ans Meer abzuschneiden. Allerdings glauben die meisten Militärexpert:innen, Kiew habe größere Pläne und wolle Russlands Landbrücke aus dem Donbass auf die Krim unterbrechen. Dann sei eine Hauptstoßrichtung aus dem Raum südöstlich von Saporischschja Richtung Asowsches Meer logischer.
Die ukrainische Gegenoffensive sorgt in Russland noch immer für Rätselraten
Wann und wo die Ukrainer am Ende tatsächlich angreifen werden, darüber grübeln vor allem Russlands Generäle.
Moskaus Zermürbungsoffensiven im Donbass kommen selbst immer mehr zum Erliegen, die Kriegsparteien belauern sich. Der Brückenkopf bei Cherson mag nur ein Ablenkungsmanöver der Ukrainer sein. Oder doch die Spitze eines Stoßkeils, mit dem sie den russischen Abwehrtruppen zwischen Dnipro und Asowschen Meer in den Rücken fallen wollen.
Der ukrainische Generalstab tarne seine Pläne nach Kräften, sagt Militärexperte Oleksij Melnyk. Er verweist auf den altchinesischen Strategen Sun Zi: „Tu so, als wolltest du angreifen, wo du es gar nicht vorhast. Und zeig auf keinen Fall, wo du wirklich deinen Angriff vorbereitest.“ Diese klassische Regel bleibe gültig. (Dmitri Durnjew)