Die Angst vorm Gas in Mariupol

Immer mehr Ukrainer geben den Kampf in der Hafenstadt auf. Gerüchte um den Einsatz von Kampfchemikalien machen die Runde
Dreißig Sekunden liegen am Dienstagvormittag zwischen diesen zwei Meldungen: Die ukrainischen Behörden geben an, in einem Keller im Dorf Schewtschenkowe im Bezirk Browary nordöstlich von Kiew sechs erschossene Zivilpersonen gefunden zu haben. Eine halbe Minute davor verkündet Russlands Herrscher Wladimir Putin während eines Besuchs im Wostotschny-Kosmodrom am Amur, die Invasion der Ukraine sei „die richtige Entscheidung gewesen“, die Ziele Russlands seien „klar und edel“.
Dazu passt, dass russische Behörden offenbar an diesem 48. Tag des Überfalls auf die Ukraine in den Bezirken Woronesch, Rossosch, Kantemirowka, Krasnodar und auf der Krim die Terrorgefahr höher einstufen. Das soll wohl signalisieren: Russischer Edelmut trifft auf ukrainische Teufelei. Für letztere gibt es wohlgemerkt nicht den geringsten unabhängig überprüfbaren Hinweis.
Das gilt andererseits auch für die Schreckensbotschaft, die in der Nacht zu Dienstag aus Mariupol die Welt erreichte: Der Kommandeur des Regiments Asow der ukrainischen Nationalgarde in der belagerten Hafenstadt sprach von drei seiner Soldaten mit Symptomen eines etwaigen Angriffs der russischen Belagerer mittels Giftgas. Fast seit Kriegsbeginn fürchtet man in der Ukraine und im Westen den – geächteten – Einsatz von Kampfchemikalien durch die russischen Streitkräfte, so wie sie das mehrfach im Syrischen Bürgerkrieg getan hatten. Geschürt wurde das durch gelegentliche obskure Andeutungen aus dem innersten Kreml-Zirkel.
Gleichermaßen obskur scheint aber auch die Horrormeldung aus Mariupol, soll sie doch von Andrij Bilezkyj stammen, einem aktenkundigen Rechtsextremisten und zeitweiligen Kommandeur des Asow, das auch schon im westlichen Ausland Neonazis rekrutiert hat. Bilezkyj selbst schien sich seiner Glaubwürdigkeit oder der seiner Botschaft unsicher, jedenfalls betonte er, dass er keinerlei verlässliche Hinweise auf den tatsächlichen Einsatz von Kampfgas in Mariupol habe. Fehlalarm?
Vielleicht. Eher zur medialen Vorsicht neigende Instanzen wie beispielsweise das US-Pentagon, erwarten tatsächlich jederzeit, dass Putin den Einsatz von Gas genehmigt. Je weniger seine Invasionskräfte vorankommen, umso wahrscheinlicher wird die Eskalation der Kriegsführung.
Aber nochmal zurück zum Weltraumbahnhof in Russlands äußerstem Osten, fernab der ukrainischen Fronten: Die Ziele der „Spezialoperation“ würden erreicht, sagte Putin dort der Agentur Interfax zufolge. „Daran gibt es keinen Zweifel.“ Wenn dem so wäre, dann bräuchte sich die Welt keine Sorgen um den Einsatz von Giftgas zu machen.
Die Sorge um das Überleben der Ukraine aber treibt die Welt weiter an – wahrscheinlich, weil sich Putin so siegesgewiss gibt. Und darum kann der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj wohl auch nicht locker lassen in seinen vielen Ansprachen per Video für internationale Institutionen oder ausländische Gremien.
Am Dienstag zweifelte er vorm litauischen Parlament an der Entschlossenheit Europas, den Druck auf Russland wegen der Kriegsgräuel zu erhöhen. „Einige EU-Staaten können sich nicht festlegen, wann sie zumindest spürbar den Kauf russischer Energieträger einschränken“, sagte der Staatschef. Der Krieg werfe für Europa eine strategische Frage auf. „Sind die Werte noch lebendig, die zur Grundlage Europas nach dem Zweiten Weltkrieg wurden?“, so Selenskyj. All das ist dazu gedacht, einen Bewusstseinswandel im Westen zu intensivieren, um mit allen gebotenen Mitteln Putins Krieg für den Mann im Kreml nicht als Sieg enden zu lassen – was sicherlich das Ende der Ukraine wäre. Um dem vorzubauen, hat die Ukraine erst am Montag gegenüber dem Pentagon drei Wünsche wiederholt – wie ein Sprecher des US-Verteidigungsministeriums sagte: „Waffen, Waffen, Waffen.“ mit dpa
Leitartikel Seite 11