Die Angst in Brjansk

Dissidenten kämpfen in russischen Grenzregionen, Sprengsätze und Drohnen bedrohen zunehmend den Westen des Landes. Putin spricht nun von „Terror“.
Jetzt sei es geschehen: „Wir haben die Staatsgrenze Russlands überschritten“, verkündete ein schwer bewaffneter Hüne und klopfte als Beweis auf das Metallschild einer russischen Sanitätsstation, vor deren Eingang er sich aufgebaut hatte. „Wir kämpfen nicht mit Zivilisten, töten niemanden, der waffenlos ist. Jetzt ist es Zeit für die einfachen Bürger Russlands zu begreifen, dass sie keine Sklaven sind.“
Nach Angaben des russischen Exilportals „agents.media“ soll es sich bei dem Bewaffneten um Denis Kapustin handeln, den Kommandeur des auf ukrainischer Seite kämpfenden „Russischen Freiwilligenkorps“ – früher als Skinhead und Kampfsportler bekannt. Ein Kamerad neben ihm schwenkt eine blauweiße Flagge mit dem Emblem der Einheit. Und beide tragen gelbe Plastikklebestreifen an ihren Tarnanzügen, ein „Feldzeichen“ zur Unterscheidung ukrainischer Kämpfender von russischen, da die Tarnmuster das nicht immer zulassen.
Putins Reisepläne gestört
Das Video wurde am Donnerstag vor der Sanitätsstation des Dorfes Ljubetschane in der russischen Grenzregion Brjansk aufgenommen. Nach Angaben der russischen Staatsagentur „RIA Nowosti“ waren am Morgen ukrainische Aufklärungs- und Sabotagegruppen in die Grenzdörfer Ljubetschane und Suschany eingedrungen. Laut den russischen Medien beschossen sie in Ljubetschane ein Auto, töteten dabei einen Einwohner und verletzten ein Kind. Auf russischen Telegramkanälen wird behauptet, dass die Eindringlinge außerdem noch sechs bis 100 Geiseln genommen hätten. Diese Meldungen bestätigten sich bis Redaktionsschluss nicht. Die Staatsagentur Tass berichtete kurz nach 14 Uhr Ortszeit, dass man keine Schüsse mehr höre und die ukrainischen Einheiten sich wieder über die Grenze zurückgezogen hätten.
Laut Kremlsprecher Dmitri Peskow strich Wladimir Putin wegen der Ereignisse in Brjansk einen Besuch im südrussischen Stawropol und nahm im Kreml Lageberichte entgegen. Der Staatschef bezeichnete den ukrainischen Vorstoß bei einer Videokonferenz als „Terrorakt“. Die Eindringlinge hätten jenen PKW unter Feuer genommen, „obwohl sie sahen, dass darin Zivilisten und Kinder saßen“.
Der ukrainische Präsidentenberater Michailo Podoljak tat die Episode aber via Twitter ab als „eine klassische Provokation“ über eine ukrainische Diversionsgruppe („Diversant“ ist ein osteuropäisches Polit-Synonym für „Saboteur“, Anm.d.Red.) in Russland. „Der russische Staat will seinem Volk Angst machen, um den Angriff auf ein anderes Land und die wachsende Armut nach einem Jahr Krieg zu rechtfertigen.“ Podoljak fügte aber auch an, die „Partisanenbewegung in Russland“ gegen das Putin-Regime werde „immer stärker und aggressiver“.
Explosionen in Reihe
Der russische Militärblogger Alexander Koz schrieb auf Telegram über einen „politischen Akt“, um die friedliche Bevölkerung Russlands in Schrecken zu versetzen und ihren Glauben an die Führung des Landes zu untergraben. Wie nach dem Blutbad im nordossetischen Beslan – dort kamen 2004 bei einer Geiselnahme in einer Mittelschule durch tschetschenische Terroristen 333 Menschen um – sei nun „eine grausame Antwort“ nötig. „Auch die Verwandten der Terroristen müssen kollektiv zu Verantwortung gezogen werden.“ Tschetschenen-Chef und Putin-Verbündeter Ramsan Kadyrow forderte das Kriegsrecht in mehreren russischen Regionen.
Seit Tagen sorgen mutmaßliche Drohnenangriffe und ungeklärte Unfälle in Russland für Unruhe. Auch am Donnerstag gab es bei einem Dorf in der Region Tula südlich von Moskau eine heftige Explosion, die Ortschaft Tjotkino in der Grenzregion Kursk geriet unter Artilleriefeuer, in Uljanowsk an der Wolga kam bei einer Explosion in einer Flugzeugfabrik ein Mensch ums Leben. In den Vortagen stürzten Drohnen bei Kolomna nahe Moskau zu Boden, auch in Belgorod und der Kaukasusrepublik Adygeja. Auf dem südrussischen Flughafen Jejsk brach nach Detonationen ein Feuer aus, ein Öllager in Tuapse geriet in Brand, der St. Petersburger Flughafen musste wegen eines unbekannten Flugobjekts für einen halben Tag seinen Betrieb einstellen.
Aber der Politologe Juri Korgonjuk glaubt nicht, dass die Mehrheit des russischen Volkes sich bisher ernsthaft gefährdet fühlt. „Und wer doch Angst hat, der wird zuerst einmal hoffen, dass Wladimir Putin ihn beschützt.“ Laut Kremlsprecher Peskow ist für diesen Freitag eine Sitzung des Nationalen Sicherheitsrates geplant.