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Corona in Großbritannien: Der Preis der Freiheit

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Von: Peter Nonnenmacher

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Boris Johnson
Dank des „phänomenalen“ Impfprogramms sei das Land in der Lage, „mit dem Virus zu leben“, befand Premier Boris Johnson. Jones/dpa © Tayfun Salci/Imago

In Großbritannien fragen sich die Menschen, was es heißt, „mit dem Coronavirus leben“ zu müssen.

London – Großbritannien ist nach Russland noch immer das Land mit den meisten Covid-19-Toten in Europa. Nach Angaben des Nationalen Statistischen Amts sind im Vereinigten Königreich bis dato mehr als 157.000 Menschen dem Virus zum Opfer gefallen. Zwei heftige Infektionswellen – beide der verspäteten Anordnung von Lockdowns zugeschrieben – führten im Wesentlichen zu diesen hohen Zahlen. Im Januar dieses Jahres hatte die Zahl der täglich registrierten Todesfälle bereits die Höchstmarke von 1820 erreicht. Glücklicherweise vermochten die relativ früh und mit großer Effizienz verabreichten Corona-Impfstoffe zusammen mit zeitweise strikten Lockdownregeln, diese Zahlen zum Sommer hin auf einen niedrigen Stand zu senken. Im Mai waren die Zahlen an den meisten Tagen nur noch einstellig. Am 1. Juni tauchte kein einziger Corona-Tod in der Statistik auf.

Mittlerweile freilich hat die Kombination aus Delta-Variante, kompletter Beendigung des Lockdowns und neuer Sorglosigkeit in einigen Teilen der Bevölkerung einen neuen Trend eingeleitet. Mehrfach sind in der vergangenen Zeit wieder mehr als 200 Covid-Tote pro Tag gemeldet worden. Gemessen an den Januar-Zahlen hält sich das zwar immer noch in Grenzen – bei derzeit 30.000 gemeldeten positiven Tests pro Tag.

Corona in Großbritannien: Kein Lockdown, kaum Regeln

Aber britische Forschende stimmt bang, dass just der Unterricht an Schulen und Hochschulen wieder begonnen hat, dass Hunderttausende an ihre Arbeitsplätze zurückgekehrt sind und dass sich mit Herbst und Winter nun generell die Zeit des Rückzugs in geschlossene Räume ankündigt. Das allmähliche Nachlassen der Wirksamkeit der Impfungen und die immer bestehende Gefahr neuer Varianten kommen als große Unbekannte dazu. In der vergangenen Woche verkündete Premierminister Boris Johnson, dank des „phänomenalen“ britischen Impfprogramms sei das Land in der Lage, „mit dem Virus ohne nennenswerte Einschränkungen unserer Freiheiten zu leben“.

Dass man das lernen müsse, hatte im Sommer schon Johnsons Planungsexperte, Minister Michael Gove, gesagt. Gefragt, ob er damit meine, man müsse sich notfalls mit Hunderten von Todesfällen pro Tag abfinden, hatte Gove das nicht ausgeschlossen. Niemand in der Regierung will sich freilich auf eine „akzeptable Todeszahl“ festlegen lassen. „Eine konkrete Zahl akzeptabler Opfer von Covid“, versichert man in Downing Street, „gibt es nicht.“

Corona in Großbritannien: Aktuell mehr als 100 Tote pro Tag

Das hat die Presse in London nicht daran gehindert, bei Vertrauten der Regierung weitere Nachforschungen anzustellen. Im kleinen Kreis, berichtete die Zeitung „i“ jüngst, habe Johnson akzeptiert, dass neue Restriktionen ergriffen werden müssten, sobald sich eine Todesrate von 50.000 oder mehr Fällen für die kommenden zwölf Monate abzeichne. Das wären im Durchschnitt etwa 140 Tote pro Tag.

In etwa so viele Todesfälle melden zur Zeit die Gesundheitsämter pro Tag. Natürlich spiele in dieser Sache nicht nur eine kühle Kosten-Nutzen-Rechnung eine Rolle, die den wirtschaftlichen Schaden neuer Einschränkungen abzuschätzen suche, meinen britische Kommentator:innen – sondern auch die Frage, was für die öffentliche Meinung noch erträglich sei.

Und „mit absoluter Gewissheit“ könne man ja nicht sagen, dass es in nächster Zeit wieder zu Hunderten von Opfern jeden Tag kommen würde, erklärt Professor Graham Medley, ein Mitglied von „Sage“, dem wissenschaftlichen Beratungsgremium der Regierung. Aber „sehr wohl möglich“ sei dieses Szenario schon.

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