Das Versagen in Zeiten der Cholera

Naturkatastrophen sind unaufhaltsam, doch Epidemien sind vermeidbar. Arzt Andreas Wulf erzählt die Geschichte eines wiederholten politischen Scheiterns durch die Jahrhunderte hinweg
Der Cholera-Impfstoff wird in der Regel zweimal gespritzt. Nun soll es nur noch Einmaldosen geben. Aufgrund des akuten Impfstoffmangels sollen so zumindest lokale Ausbrüche etwas eingedämmt werden - damit mehr Krisenherde beliefert werden können. Davon gibt es derzeit mehr als genug: Die WHO vermeldete erst im Herbst des vergangenen Jahres, dass es so viele aktuelle Ausbrüche von Cholera gibt, wie seit Jahren nicht mehr (in 29 Ländern weltweit).
Eine nachvollziehbare Entscheidung, aber sie zeigt zugleich, wie unzureichend das vermeintlich eingespielte System globaler Hilfe in Krisen funktioniert. Und vor allem zeigt die Zunahme der Ausbrüche die sozialen und strukturellen Ungleichheiten und Defizite auf, die solchen Epidemie- Ausbrüchen zu Grunde liegen und die mit Nothilfe nicht zu bewältigen sind.
Unter den betroffenen Ländern sind etwa Haiti, Mosambik und Syrien. Im Libanon waren im Herbst vor allem Fälle im Norden des Landes aufgetreten, zunächst bei syrischen Flüchtlingen in ihren elenden Notunterkünften, in denen sie seit Jahren ausharren. Aber die Erreger breiteten sich angesichts der desolaten Lage der öffentlichen Versorgungssysteme bald auch in die Armenviertel der libanesischen Städte aus.
Hier ist es die dramatische ökonomische und politische Krise, die seit 2019 die letzten Reste der schon lange dysfunktionalen öffentlichen sozialen Infrastruktur hinwegfegt und im vormaligen „upper middle income country“ zu Armutsquoten von über 80 Prozent geführt hat. Dabei hat der Libanon noch Glück im Unglück: Traditionell starke zivilgesellschaftliche Akteure in der Gesundheitsversorgung der Armen, seit Jahren mit internationaler Unterstützung für die syrischen Flüchtlinge und die libanesischen Nachbargemeinden aktiv, wie die Amel Association (Partner der deutschen Organisation Medico international) konnten in einer gemeinsamen Anstrengung einen großen Teil der Bevölkerung impfen. Aktuell treten keine neuen Krankheitsfälle auf, wenn auch in Abwasserproben immer noch die Cholera-Keime nachweisbar sind.
In jedem einzelnen Fall sind es viele konkrete Faktoren, die zu einem Ausbruch führen können. Einige der vergangenen dramatischen Ausbrüche haben sich in schwere humanitäre Krisen entwickelt, wie im Krieg in Jemen in 2016/17 oder in Haiti 2010/11 nach dem Erdbeben, beide mit jeweils Hunderttausenden von Erkrankten und Tausenden von Toten. Auch die zunehmenden klimabedingten Krisen (Überschwemmungen in Pakistan, Dürre in Ostafrika) erhöhen unmittelbar die Gefahr für Cholera-Ausbrüche, da die Menschen immer seltener sicheren Zugang zu sauberem Wasser und sanitären Strukturen haben. Aber die grundlegenden Ursachen für die Epidemien haben sich nicht geändert, seit die Cholera erstmals auf der globalen Weltkarte erschien.
Cholera war die große Seuche der Globalisierungswelle des 19. Jahrhunderts. Mit den britischen Handelsschiffen und Kolonialarmeen verbreitete sie sich in mehreren Wellen vom indischen Subkontinent aus in die wachsenden Städte Europas, Asiens und den Amerikas. Zu Beginn der 30er Jahre tauchte sie das erste Mal in London und Paris auf, auch Hamburg als deutsches „Tor zur Welt“ war 1832 zum ersten Mal betroffen.

Wie sehr die Cholera eine Krankheit von Schmutz und Armut war, hatte schon Heinrich Heine in seinen Reportagen aus Paris für die „Allgemeine Zeitung“ in Augsburg berichtet, obwohl die Frage einer Infektion noch umstritten war. Aber bis es in Hamburg zu relevanten Veränderungen an ebendiesen Ursachen der immer wieder auftauchenden Pandemien kam, vergingen weitere 60 Jahre. Dies zeigt, wie schwer es der Fortschritt in diesem vermeintlich fortschrittsgläubigen Jahrhundert hatte. In der reichen Hafenstadt dauerte es bis zum Ende der großen Epidemie 1892, bis endlich einige politische und infrastrukturelle Konsequenzen gezogen wurden. Und das nachdem es in nahezu jeder Dekade des 19. Jahrhunderts mindestens einen größeren Ausbruch der Cholera gegeben hatte.
In der massivsten globalen Welle in den 1850er Jahren konnte der Arzt John Snow mittels statistischer Fallerhebungen in London die Übertragung der Krankheit durch verschmutztes Trinkwasser nachweisen. Snow gilt als Gründervater der Gesundheitsepidemiologie. Seine Erkenntnisse erschienen schon drei Jahrzehnte bevor der Erreger „Vibrio cholerae“ 1883 als kausale Ursache der Cholera von Robert Koch bei Reisen nach Ägypten und Indien identifiziert wurde.
Aus den europäischen Cholera-Krisen entstanden in der Folge exemplarisch die Konzepte, die zur langfristigen „Sanierung der Städte“ führten und öffentliche Verantwortung einforderten für sauberes Trinkwasser, Nahrungsmittelhygiene, Abfall- und Abwasserentsorgung, Verbesserung der Wohnmöglichkeiten der Arbeitenden und Armen und staatliche Interventionen im Krisenfall wie Quarantäne, Desinfektionen und Notlazarette.
Dieses umfassende Konzept einer „Public Health“, einer öffentlichen Gesundheit war allerdings keineswegs ein Selbstläufer im aufgeklärten Selbstinteresse der gesamten Gesellschaft, sondern musste gegen massiven Widerstand der lokalen Eliten durchgesetzt werden. In ihren ländlichen Sommerresidenzen und weiträumigen Stadtvillen waren sie selbst am wenigsten betroffen. Sei es in Paris, in London oder Hamburg.
Das schon damals berüchtigte Hamburger Gängeviertel der Hafenarbeiter:innen und ihrer Familien, in dessen engen Gassen und überfüllten Quartieren sich die Cholera im heißen Sommer 1892 besonders gut ausbreitete, ist ein besonders drastisches Beispiel. Von ihm war Robert Koch, der als preußischer Beamter vom Kaiserlichen Reichsgesundheitsamt zur Bewältigung der Epidemie in die Elbstadt geschickt worden war, so schockiert, dass er urteilte „Meine Herren, ich vergesse, dass ich in Europa bin. Ich habe noch nie solche ungesunden Wohnungen, Pesthöhlen und Brutstätten für jeden Ansteckungskeim angetroffen wie hier“.
Die Sanierung dieses innerstädtischen Slums machte allerdings erst nach einem massiven Hafenarbeiter:innenstreik 1896/97 entscheidende Fortschritte und war dabei auch motiviert durch den Versuch einer politischen Kontrolle, da die Slums laut Polizeibehörden zugleich als „Brutstätten des Kommunismus“ galten.

Schon zu Beginn dieser Epidemie zeigte sich die Erfahrung, dass es immer wieder ökonomische Interessen und Klassenlager waren, die sich einer frühzeitigen und vorbeugenden Bekämpfung der Seuche entgegenstellten. Der Hafen musste offen bleiben, koste es was es wolle (am Ende waren die menschlichen „Kosten“ in Hamburg über 8000 Todesopfer) und deshalb wurde die medizinische Diagnose Cholera immer wieder zu einer politischen. Die Hamburger „Bürgerschaft“, die 1992 noch von weniger als zehn Prozent der Hamburger:innen gewählt wurde (das Bürgerrecht kostete viel Geld), investierte die Gewinne aus dem Überseehandel lieber in ihren florentinisch inspirierten Rathauspalast, als in die Trinkwasserfiltrieranlagen, die in vielen Städten schon für sauberes Wasser sorgten - wie etwa im benachbarten Altona, das bis zum preußisch-dänischen Krieg 1864 zum dänischen Königreich gehörte. Und entsprechend weniger Cholera-Erkrankte und Tote zu beklagen hatte.
An diesen Befunden und Perspektiven hat sich bis heute wenig geändert. Auch heute – da die Cholera bei rechtzeitiger Behandlung mit einfacher Elektrolytlösung zum Trinken oder in schweren Fällen als Infusion und Antibiotika ihre Schrecken verloren hat – sind es weiterhin die sozialen Lebensbedingungen, die darüber entscheiden wer von der Seuche betroffen ist und wie schwer sie verläuft. Mangel- und Unterernährung erhöhen die Sterblichkeitsrisiken wesentlich , besonders bei kleinen Kindern. Unzureichende Versorgung mit Wasser, Hygiene, sanitärer und gesundheitlicher Infrastruktur in Armenvierteln und Flüchtlingslagern machen diese zu den Hauptbetroffenen von Cholera.
Cholera bleibt die Krankheit der Armen und Ausgeschlossenen, deshalb wird sie auch weiterhin auf dem Boden dieser sozialen Ungleichheit gedeihen und an die zentrale Botschaft der alten wie der neuen Public Health erinnern: Gesundheit ist eine politische Entscheidung.
Und genauso ist die Impfstoff-Knappheit, mit der dieser Text begonnen hat, keine naturgemachte Konstante, sondern hat ebenso politische Ursachen, wie wir sie in den vergangenen zweieinhalb Jahren in den Debatten um den Covid-19-Impfstoff gesehen haben. Die WHO verkündet, dass die Impfstoffhersteller für den Cholera-Impfstoff „am Anschlag“ arbeiten, aber zugleich steigt einer von nur zwei Herstellern der für Notfälle zugelassenen Impfstoffe aus der Produktion zum Jahresende aus - zwar mit Vorankündigung, aber offenbar aus rein ökonomischen Gründen: Es rentiere sich nicht mehr, weiter zu produzieren. Und dem WHO-Direktor bleibt nichts anderes als zu betteln, dass sie doch noch ein bisschen weitermachen.
Das Dilemma einer Strategie, die sich auf privatwirtschaftliche Akteure verlassen muss, wenn es um die Produktion essenzieller Gesundheitsgüter geht, trifft also nicht nur auf Covid-19 zu. Es bleibt eine strukturelle Schwachstelle, in der öffentliche Interessen hinter privaten zurückstehen. Auch hier zeigt sich – Gesundheit ist eine politische Entscheidung.
Öffentliche Güter müssen in öffentliche Verantwortung. Das Wort der Vergesellschaftung macht bereits die Runde: bei Wohnraum und Energieversorgung - warum nicht auch bei den essenziellen Gesundheitsgütern? Dafür lohnt es sich zu streiten und weiter den politischen Druck zu erhöhen.
Eine Version dieses Beitrags erschien auch im Rundschreiben von Medico International. Andreas Wulf ist ein Projektkoordinator der Organisation.