1. Startseite
  2. Politik

Völkerrechtler Kai Ambos: „Völkerrecht hat eine enorme symbolische Wirkung“

Erstellt: Aktualisiert:

Von: Tatjana Coerschulte

Kommentare

Im bombardierten Druschkiwka in der Oblast Donezk führt ein Sohn seine Mutter aus den Trümmern ihres Hauses.
Im bombardierten Druschkiwka in der Oblast Donezk führt ein Sohn seine Mutter aus den Trümmern ihres Hauses. © Celestino Arce Lavin/dpa

Der Völkerrechtler Kai Ambos über den Krieg in der Ukraine, den Nutzen der Genfer Konventionen im Angesicht von Gräueltaten wie in Butscha und die Neutralität des Roten Kreuzes.

Herr Ambos, in der Ukraine nehmen beide Konfliktparteien Kriegsgefangene. Es gab Bilder, wie die Kämpfer des ukrainischen Asow-Regiments als russische Kriegsgefangene abgeführt wurden. Sie mussten sich teilweise entkleiden und ihre Tätowierungen vorzeigen. Wie wirken diese Vorgänge auf Sie als Völkerrechtler?

Ein solches Vorgehen ist nicht zulässig. Wir haben im Bereich des sogenannten humanitären Völkerrechtes sehr klare Regeln, wie mit Kriegsgefangenen umzugehen ist. Deren Grundaussage ist, dass diese immer mit Menschlichkeit zu behandeln sind. Dabei gelten als Kriegsgefangene alle Kombattanten – also nicht nur die Mitglieder der regulären Streitkräfte, sondern etwa auch Mitglieder nationaler Selbstverteidigungsgruppen oder ausländische Kämpfer, die in die Streitkräfte oder solche Selbstverteidigungsgruppen integriert wurden und bestimmte Voraussetzungen erfüllen. Der Kriegsgefangenenstatus kommt also nahezu allen Kombattanten zugute.

Wer bestimmt, was „Behandlung mit Menschlichkeit“ bedeutet?

Das wird in den entsprechenden Verträgen konkretisiert, insbesondere der Dritten Genfer Konvention von 1949, die als Teil des sogenannten Genfer Rechts das Verhalten während der Feindseligkeiten, den Status und die Behandlung von Kriegsgefangenen regelt. Dort finden sich sehr genaue und weitgehende Rechte von Kriegsgefangenen, etwa ihre medizinische Versorgung sowie ihre angemessene Unterbringung und Verpflegung. Auch müssen Schwerverwundete umgehend repatriiert werden und Kriegsgefangene dürfen nicht vernommen werden; sie müssen lediglich ihre Personalien angeben. Die Genfer Konventionen sind praktisch von allen Staaten der Welt akzeptiert, insbesondere auch von der Russischen Föderation und der Ukraine.

Kai Ambos
Kai Ambos © Klein und Neumann

Was nützen diese Regeln, wenn es trotzdem zu Gräueln kommt? Offenbar verfangen die Genfer Konventionen nicht.

Es ist keine Besonderheit des Völkerrechts, dass seine Regeln mitunter gebrochen werden. Das passiert auch im nationalen Recht, denken Sie etwa an Straftaten, die einen Bruch der entsprechenden Verbote des Strafgesetzbuchs darstellen. Das bedeutet aber nicht, dass es uns ohne diese Regeln besser ginge. Diese Regeln, gerade die des humanitären Völkerrechts, haben eine enorme symbolische Wirkung. Staaten, einschließlich mächtiger Staaten wie die Russische Föderation oder die USA, fühlen sich an diese Regeln gebunden, was sich schon daran zeigt, dass sie eventuelle Verletzungen nicht offen zugeben. Kommt es zu Regelverletzungen, etwa der Tötung von Zivilisten oder der Bombardierung ziviler Ziele, bringen die Täterstaaten immer irgendwelche Erklärungen vor, z. B. dass sie die Tat nicht begangen oder ein militärisches Ziel angegriffen hätten. Sie sagen aber nicht: Ja, wir haben das Kriegsrecht verletzt und fühlen uns nicht daran gebunden.

Wer kontrolliert die Einhaltung des Genfer Rechts? Gibt es eine Möglichkeit, es durchzusetzen?

Diese Frage spricht eine generelle Schwachstelle des Völkerrechts an, die wir als Durchsetzungsdefizit bezeichnen. Es gibt ja keine Weltregierung und der UN-Sicherheitsrat, dem diese Rolle eigentlich zukommt, ist zu häufig durch ein Veto eines ständigen Mitglieds blockiert. Durchsetzungsdefizite gibt es aber auch im nationalen Recht, eben wenn es kein effektives staatliches Gewaltmonopol gibt. Im humanitären Völkerrecht versucht man dessen Einhaltung durch das System der sogenannten Schutzmächte zu sichern.

Zur Person

Kai Ambos (57) ist Professor für internationales Strafrecht und Völkerrecht an der Universität Göttingen.

Seit 2017 ist er zudem Richter am Kosovo-Sondertribunal in Den Haag. Zuvor gehörte er dem Verteidigerteam von Mladen Markac vor dem UN-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag an. Der gebürtige Heidelberger studierte Jura in Freiburg, Oxford und in München. coe

Was bedeutet das?

Theoretisch können Konfliktparteien andere (in der Regel neutrale) Staaten als Schutzmächte bestimmen. Wenn sie das nicht tun, wie etwa im Ukraine-Krieg, hat das Genfer Recht eine Substitutionsmöglichkeit vorgesehen und die wird vom Internationalen Komitee des Roten Kreuzes (IKRK) ausgefüllt. Das IKRK ist praktisch der neutrale „Hüter der Verträge“ und spielt auch im Ukraine-Konflikt, auf Bitten beider Konfliktparteien, eine wichtige Rolle.

Wie kann das IKRK in der Ukraine in Aktion treten?

Das IKRK hat die Gefangenen aus dem Asow-Stahlwerk zum großen Teil registriert. Es überwacht ihre angemessene Behandlung, informiert die Familienangehörigen und wäre auch bei einem Gefangenenaustausch beteiligt. Dabei ist die Neutralität des IKRK extrem wichtig. Deshalb muss es mit beiden Konfliktparteien in ständigem Kontakt stehen, darf aber ihre Kampfhandlungen nicht öffentlich bewerten und sollte möglichst leise agieren.

Angenommen, das Rote Kreuz würde vor Ort feststellen, dass die Kriegsgefangenen schlecht behandelt werden – gibt es eine Möglichkeit, einzugreifen?

Das IRKR würde die Konfliktparteien zunächst eindringlich um Einhaltung der Regeln bitten und gegebenenfalls weitere Schritte unternehmen, z. B. die Öffentlichkeit bei kontinuierlicher Regelverletzung informieren. Die hohe Autorität des IKRK – es ist vielleicht die Organisation mit der höchsten Autorität in bewaffneten Konflikten – hat in der Regel schon im Stillen eine enorme Wirkung. Die Konfliktparteien wissen, was das IKRK weiß und tun kann; schon das führt meist zur Regelbefolgung.

In Kiew ist bereits ein junger russischer Soldat zu lebenslanger Haft verurteilt worden, weil er einen Zivilisten erschossen haben soll. Wie ist das zu beurteilen, wenn solche Verfahren noch mitten im Krieg stattfinden?

Wenn es zu schweren Verstößen gegen die Genfer Konventionen, zum Beispiel der Erschießung eines Zivilisten, kommt, dann sind die Staaten dazu verpflichtet, diese Taten entweder selbst als Kriegsverbrechen strafrechtlich zu verfolgen oder die Soldaten an einen verfolgungswilligen Staat zu überstellen. Das kann und soll eigentlich auch schon während eines bewaffneten Konflikts geschehen, denn nur dann kann es ja auch in diesem Konflikt eine präventive Wirkung entfalten. Die Ukraine verfolgt solche Taten also zu Recht, sie ist sogar verpflichtet dazu, muss aber ein faires Verfahren garantieren und auch eventuelle Taten der eigenen Kämpfer verfolgen. Von solchen Kriegsverbrechen sind aber Taten zu unterscheiden, die im bewaffneten Konflikt erlaubt sind, zum Beispiel die Tötung eines gegnerischen Kombattanten. Dafür dürfen die Soldaten und andere Kämpfer nicht verfolgt werden, vielmehr genießen sie insoweit den vollen Schutz des Kriegsgefangenenstatus.

Könnte Russland dementsprechend den verurteilten Soldaten austauschen?

In diesem Fall kann es keinen Kriegsgefangenenaustausch geben, denn hier handelt es sich um verurteilte Kriegsverbrecher, die ihre Strafe entweder im Aburteilungsstaat (hier Ukraine) oder im Heimatstaat (Russland) verbüßen müssen. Sie können allenfalls, wie auch sonstige Verurteilte, zur Strafvollstreckung repatriiert werden, dürfen also in ihrem Heimatstaat nicht einfach freigelassen werden. Das ist der entscheidende Unterschied zum normalen Kriegsgefangenen: Der hat nur seine Pflicht getan, nämlich nach den kriegsvölkerrechtlichen Regeln gekämpft, und muss deshalb entsprechend privilegiert – als Kriegsgefangener – behandelt werden.

Interview: Tatjana Coerschulte

Auch interessant

Kommentare