„Das muss man als Angehöriger aushalten“

Friedrich von Jagow über die Forschungsgemeinschaft 20. Juli 1944, die Folgen des Hitler-Attentats – und die Gründe, warum Klimaprotest nicht vergleichbar ist mit dem Widerstand
Herr von Jagow, das Attentat auf Adolf Hitler am 20. Juli 1944 – das inhaltliche Zentrum Ihrer Forschungsgemeinschaft – liegt fast 80 Jahre zurück. Was kann dieses historische Ereignis jungen Menschen heute sagen?
Zum einen geht uns darum zu vermitteln, was sich damals eigentlich abgespielt hat. Man muss das ja im Zusammenhang sehen: Was hat sich im Kaiserreich abgespielt, im Ersten Weltkrieg, in der Weimarer Republik und dann im Nationalsozialismus? Wie konnte ein solches verbrecherisches Regime an die Macht gelangen? Wie ist die Bevölkerung damit umgegangen? Zuallererst geht es also darum, dass wir über die Vermittlung von Wissen jungen Menschen mitteilen, was sich damals zugetragen hat.
Faktenwissen ist das eine. Aber welche Bedeutung können die Ereignisse des 20. Juli 1944 für Menschen heute haben?
Die jungen Leute sind aktuell sehr aufgewühlt durch das Thema Klimaschutz. Sie lehnen sich auf gegen Beschlüsse, die in einem freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat durchgesetzt werden, zum Beispiel die Abbaggerung von Lützerath. Wenn man mit jungen Leuten darüber spricht, stellt sich die Frage: Ist das Widerstand im Sinne des Widerstandes, den wir als Forschungsgemeinschaft 20. Juli bei Tagungen oder in Forschungsarbeiten betrachten? Kann man sich da auf Parallelen berufen? Das sind Diskussionen, die wir heute oft mit Jugendlichen führen, wenn wir mit ihnen über Nationalsozialismus und den Widerstand dagegen sprechen.
Und? Sind die Klimaproteste auf der Straße mit dem Widerstand vom 20. Juli vergleichbar?
Nein, weil wir in dem einen Fall ein verbrecherisches Regime haben und in dem anderen Fall eine Demokratie. Einen Widerstand, wie es ihn gegen den Nationalsozialismus gegeben hat, kann es in einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung wie in der Bundesrepublik Deutschland nicht geben. Gegen Entscheidungen in einer Demokratie ist Protest legitim, sofern er friedlich bleibt und sich im Rahmen des Gesetzes bewegt. Daran sieht man aber: Im NS-Regime, das dem Rechtsstaat, der Moral und der Sittlichkeit völlig entrückt war, bedeutete Widerstand zu leisten den Einsatz des eigenen Lebens. Das ist etwas komplett anderes als der Protest gegen den Braunkohletagebau.
Die Forschungsgemeinschaft 20. Juli ist getragen von Angehörigen der Männer und Frauen des 20. Juli – also von Menschen, die einen emotionalen, familiären Bezug zum Gegenstand der Forschung haben. Warum ist die Forschungsgemeinschaft vor 50 Jahren gegründet worden?
Zunächst einmal: Die Forschungsgemeinschaft steht als Verein allen Interessierten offen und ist nicht auf Angehörige beschränkt. Der damalige Impuls dazu kam aus der Kindergeneration, also der Kinder jener Männer und Frauen des 20. Juli, die meistenteils nach dem 20. Juli ermordet worden waren. Diese Kinder sind alle in den 30er und 40er-Jahren bis 1944 geboren. Sie waren nach den 60er Jahren als Gemeinschaft zusammengewachsen durch die Initiative unserer Schwesterorganisation, der Stiftung 20. Juli. Die Stiftung hat sich nach dem Krieg um die Hinterbliebenen gekümmert.
Was hat die Kinder bewogen, Forschung anzuregen?

Diese Kinder, die sich alle kannten beziehungsweise kennen und sich sehr eng verbunden sind aufgrund des geteilten Schicksals, haben als Heranwachsende gespürt: Wir wollen und müssen unser Wissen über das, was unsere Väter und teils auch Mütter erlitten haben, auf eine wissenschaftliche Basis stellen. Sie wollten letztlich wissenschaftlich erforschen, wie ihre Väter in diese Situation gekommen sind, was sie angetrieben hat. Das wollten sie nicht nur im Rahmen familiärer Erzählungen verstehen, sondern auch durch wissenschaftliche Forschung.
Die Schriftenreihe der Forschungsgemeinschaft umfasst inzwischen 29 Bände. Hat sich die Hoffnung erfüllt?
Durch die vielen Jahre und die regelmäßigen Tagungen, die wir veranstalten, hat sich das für die persönliche Erkenntnis sicher erfüllt – mit allem was dazu gehört.
Was wäre das?
Auszuhalten, wenn Ambivalenzen in den Biografien der eigenen Angehörigen wissenschaftlich nüchtern dargestellt werden. Das sind ja nicht durchgängig Heldengeschichten, sondern jeder hat seine eigene Entwicklung. Es gab Widerstandskämpfer, die waren zunächst glühende Nationalsozialisten und haben sich erst später gegen das Regime gestellt. Das muss man als Angehöriger erst einmal verstehen und zum Teil dann die kritischen Anmerkungen der Wissenschaftler, die das darstellen, aushalten. Das hat aber für alle Beteiligten gut funktioniert.
Zur Person und Sache
Friedrich von Jagow ist seit 2010 Vorsitzender der Forschungsgemeinschaft 20. Juli 1944. Der Diplom-Kaufmann ist ein Enkel von Günther Smend, Oberstleutnant im Generalstab der Wehrmacht, der als Mitwisser der Umsturzpläne gegen Hitler am 8.September 1944 in Berlin-Plötzensee ermordet wurde.
Die Forschungsgemeinschaft begeht in diesem Jahr ihr 50-jähriges Bestehen. Die Jubiläumstagung „Die Bundesrepublik Deutschland und der Widerstand gegen den Nationalsozialismus“ findet vom 24. bis 26. Februar im „Haus der Geschichte“ in Bonn statt. Die Teilnahme ist offen.
Anmeldung erbeten unter forschungsgemeinschaft-20-juli.de
Der Plan, Hitler zu töten und die NS-Herrschaftsstrukturen zwecks eines Separatfriedens mit den Westalliierten auszuschalten, war eigentlich ein Plan der Nazis, wie man mit einem Volksaufstand in Deutschland umgehen sollte.
Die Verschwörergruppe um Claus Graf Schenk von Stauffenberg bestand in ihrem entscheidenden Personal aus hohen Offizieren der Wehrmachtsführung in Berlin, die den Anti-Aufstandsplan „Walküre“ gründlich kannten. Sie benutzten ihn als getreue Blaupause für die Machtübernahme nach dem Attentatstod Hitlers.
Am Nachmittag des 20. Juli 1944 wurde „Walküre“ im Berliner Bendlerblock ausgelöst. Aber zu viele Befehle verliefen unkoordiniert, Offiziere handelten auf eigene Faust und es wurden Leute einbezogen, die unzureichend informiert waren oder gar den „Aufstand der Offiziere“ ablehnten. Und schließlich misslang Stauffenbergs Bombenattentat auf Hitler. Das Scheitern war damit programmiert. rut
Welches Ziel hat die Forschungsgemeinschaft nicht erreicht?
Eine Hoffnung, die sich nicht erfüllt hat, ist, dass es in Deutschland einen oder mehrere Lehrstühle geben würde, die sich ausschließlich um die Erforschung des Widerstandes kümmern. Es gibt viele Lehrstühle, die das mit abdecken, aber einen dezidierten gibt es nicht. Aber: Die Forschungsgemeinschaft ist die einzige Organisation, die regelmäßig eine spezielle Fachtagung anbietet mit nachgeschalteter Veröffentlichung der neuesten Erkenntnisse. Das ist ein großer Erfolg, und darauf sind wir stolz. Das Besondere am Format unserer Königswinterer Tagungen ist, dass eine spezielle Zeitzeugenschaft in Diskussion tritt mit einem Forscher oder einer Forscherin. Das gibt es sonst nirgends.
Die Gründungsgeschichte der Forschungsgemeinschaft könnte den leisen Verdacht wecken, dass sie genehme wissenschaftliche Erkenntnisse fördert. Wie gehen Sie mit so einem Verdacht um?
Die Antwort ist ganz einfach: Wir sind kein Lobbyverband. Wir fördern keine genehmen Studien, und wir machen keine Gefälligkeitswissenschaft. Wir liefern auch keine Gewissheiten, sondern stellen Dinge in Frage. Bei uns steht die Wissenschaftlichkeit im Vordergrund, mit allen Konsequenzen.
Es ist aber durchaus vorgekommen, dass Angehörige wissenschaftliche Erkenntnisse nicht akzeptieren. Vor einigen Jahren hat sich eine Enkelin von Stauffenberg öffentlich von einer Biografie über ihren Großvater distanziert und eigens eine Replik verfasst, weil sie ihren Großvater falsch dargestellt fand.
Das war nicht im Rahmen unserer Forschungsgemeinschaft, aber davon abgesehen: Interessant an der Sache ist, dass es eine Kontroverse gibt. Man kann sich ja auf die eine oder die andere Seite stellen, aber ich sehe es grundsätzlich positiv, wenn eine Diskussion stattfindet und um eine Position gerungen wird.
Gibt es Nachfahren der Gruppe vom 20. Juli, die sich für dieses Kapitel der Familiengeschichte nicht interessieren? Die sich abwenden?
Mir sind solche persönlichen Brüche nicht bekannt, aber es gibt natürlich eine über die Zeit größere Relativierung der Bedeutung. Die Herausforderung ist, dass es für die, die heute Teenager sind oder in ihren Zwanzigern, eine deutlich abstraktere Angelegenheit ist als für die unmittelbar Betroffenen wie Ehefrauen, Kinder oder Enkel, die in den 60ern und 70ern geboren sind. Wir haben alle noch – das trifft auch auf mich zu – jemanden wie Philipp von Boeselager erlebt oder unsere Großmütter, die uns von damals erzählen konnten. Es macht einen Unterschied, ob man persönliche Begegnungen mit den Zeitzeugen hatte oder auf die Überlieferung in Literatur oder Film angewiesen ist.
Sie erwähnen Philipp von Boeselager, der am Attentat vom 20. Juli 1044 beteiligt war und einer der letzten Zeitzeugen war, die aus eigener Anschauung berichten können. Er ist 2009 gestorben. Wo sieht die Forschungsgemeinschaft ihre Aufgaben in der Zukunft?
Darin, unsere Tagungsformate und die Beförderung wissenschaftlicher Arbeiten zu diesem Thema zu ermöglichen und vor allem jungen Forscherinnen und Forscherin eine Plattform zu geben und sie zu ermutigen. Uns gehen die Themen lange nicht aus. Es gibt noch immer Forschungsdesiderate. Hierfür steht uns mit dem Dorothee-Fliess-Fonds ein Stiftungsvermögen zur Verfügung. Damit fördern wir aktiv junge Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen zum Beispiel für ihre Promotion.
Welche offenen Fragen für die Forschung sehen Sie?
Aus unserem Kreis heraus ergeben sich immer Themen oder Initiativen. Fabian von Schlabrendorff zum Beispiel war wie Boeselager einer der ganz wenigen überlebenden Widerstandskämpfer. Die Familie von Schlabrendorff hat ein Privatarchiv. Das ist eben privat, es gibt aber Forscher, die es gern auswerten würden. Da konnte mit Hilfe der Forschungsgemeinschaft eine Verbindung hergestellt werden, so dass der Nachlass wissenschaftlich dargestellt werden konnte. Uns beschäftigt auch der Blick auf die Rezeptionsgeschichte in Deutschland, wie mit dem Widerstand umgegangen wurde, und die Vermittlung des Themas in neuen Medien.
In der frühen Bundesrepublik wurden die Männer des 20. Juli nicht gewürdigt, sondern teilweise diffamiert. Später wurden ihre politischen Vorstellungen für einen deutschen Staat nach Hitler als undemokratisch bewertet – es hat Jahrzehnte gedauert, bis es ein differenziertes Bild gab. Wie ist der Blick auf die Widerstandskämpfer heute?
Es ist Konsens, dass wir die Breite des Widerstands von ganz links bis hin zu konservativ-militärisch würdigen, in der politischen Bildungsarbeit, aber auch in der historischen Forschung. Es ist wichtig, sie alle als Widerstandskämpfer anzuerkennen und über sie zu berichten. Das ist ein wesentliches Ergebnis der Rezeptionsgeschichte, auch mit Blick auf die unterschiedliche Bewertung des Themas in West- und Ostdeutschland. Es ist das Beeindruckende an den Männern und Frauen des deutschen Widerstandes, dass sie aus Gewissensgründen aufgestanden sind und etwas getan haben gegen das Unrecht, gegen das mörderische Regime. Es ist fast unglaublich, welchen Mut sie aufgebracht haben – diese Erkenntnis ist es, die eine große Ausstrahlung hat, gerade auf junge Menschen.