Türkei: Erdogan stiftet Chaos mitten in der Corona-Krise
Eine hastig verhängte Ausgangssperre wegen Corona stellt die Regierung Erdogans bloß. Die Regierung Ankaras handelt sprunghaft und widersprüchlich.
- Coronavirus in der Türkei
- Ausgangssperre wegen Corona stürzt Türkei ins Chaos
- Machtkampf in der Türkei: Recep Tayyip Erdogan mittendrin
Am Freitagabend hatte der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan sein Land ins Chaos gestürzt. Eine überraschend ausgerufene Ausgangssperre für die 30 bevölkerungsreichsten türkischen Provinzen ab Mitternacht führte dazu, dass Tausende Menschen auf die Straßen strömten und sich tumultartige Szenen vor den Spätverkaufsstellen abspielten.
Die zur Eindämmung der rasant steigenden Corona-Infektionen gedachte Maßnahme erreichte ihr genaues Gegenteil: Sie dürfte als Infektionsbeschleuniger wirken in einem Land, das ohnehin unter einer schnell wachsenden Zahl Corona-Infizierter und -Toter leidet. Die Kommunikation der Behörden, die den „Lockdown“ erst zwei Stunden vor Inkrafttreten bekannt machten, führte umgehend zu einem Sturm der Empörung bei der Opposition und in den sozialen Medien.
Corona-Krise in der Türkei - Erdogans Innenminister reicht Rücktritt ein
Erdogans Regierungspartei AKP sei „unfähig zu regieren“, hieß es. Als Innenminister Süleyman Soylu dann am Sonntagnachmittag seinen Rücktritt einreichte, schlug die Nachricht ein wie eine Bombe – in einem Land, das Ministerrücktritte praktisch nur auf Anweisung Erdogans kennt. Der Präsident lehnte das Gesuch nach mehreren Telefonaten mit seinem Minister schließlich ab. Soylu betonte in seinem Tweet zum Rücktritt, seine immerwährende Treue zu Erdogan und erklärte, dass er die „vollständige Verantwortung“ für die „Mängel“ und „menschlichen Irrtümer“ an diesem chaotischen Freitag übernehme.
Allerdings hatte er in der Freitagnacht auch erklärt, dass das Krisenmanagement „von Anfang an auf Anweisung unseres Präsidenten durchgeführt“ worden sei – eine Äußerung, die er nicht mehr zurückholen konnte.
Corona-Krise stellt Erdogan-Regierung bloß
Gleichwohl dürfte er sich mit seiner Selbstaufopferung, die es dem Autokraten erlaubt, nach dem innenpolitischen Fauxpas sein Gesicht zu wahren, für höhere Aufgaben empfohlen haben. Deshalb äußerte der türkische Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu von der Mitte-Links-Partei CHP umgehend Zweifel an Soylus Rücktrittsgründen. Dieser habe mit dem Schritt vielmehr Präsident Erdogan „retten“ wollen.
Tatsächlich enthüllte die chaotische Ausgangssperre erneut, wie unkoordiniert lebenswichtige Entscheidungen in Erdogans autoritärem Präsidialsystem gefällt werden. Der Präsident konsultierte vor dem Lock-down offenbar weder seinen Gesundheitsminister Fahrettin Koca noch den staatlichen Wissenschaftsausschuss. Während Koca versucht, die Epidemie mit gesundheitspolitischen Schritten einzudämmen, ist der als Hardliner bekannte Soul völlig auf die Sicherheitspolitik fixiert und nutzt die Epidemie, um gegen die prokurdische HDP vorzugehen.
Präsident Erdogan handelt in der Krise sprunghaft und widersprüchlich
Zwischen beiden Polen und der Rücksicht auf die angeschlagene Wirtschaft des Landes schwankt Recep Tayyip Erdogan in der Krise. Er handelt sprunghaft und widersprüchlich. Viel zu spät und viel zu schwach reagierte er auf die Pandemie. Er hat zwar Ladenschließungen sowie Ausgangssperren für Menschen über 65 und unter 20 Jahren verhängt, lässt aber die Fabriken weiter produzieren und setzt damit Millionen Arbeiter der Ansteckungsgefahr aus. Seit Wochen protestieren die von der sozialdemokratischen Oppositionspartei CHP gestellten Bürgermeister der größten Metropolen Istanbul, Ankara und Izmir gegen die zaghaften Maßnahmen und fordern strengere Ausgangssperren. Vergeblich.
Deshalb kann es als sicher gelten, dass der Langzeitherrscher mit der kurzfristig verordneten Ausgangssperre vor allem die verhassten CHP-Politiker treffen wollte. Ekrem Imamoglu, das populäre Stadtoberhaupt Istanbuls und ein potenzieller Herausforderer Erdogans bei der nächsten Präsidentenwahl, wurde von dem Schritt wie seine Bürgermeister-Kollegen auch zuvor nicht informiert. Er wisse nicht, wie er die Versorgung der Bürger sicherstellen solle, twitterte Imamoglu am Freitagabend.
Rücktritt von Süleyman Soylu auf Drängen von Erdogan?
Ob sich Süleyman Soylu selbständig zum Rücktritt entschloss oder von Erdogan zunächst dazu gedrängt wurde, ist derzeit unklar, aber auch unerheblich. In der Vergangenheit wurden die extrem seltenen Ministerrücktritte stets von Erdogan angeordnet. So war es während der Korruptionsaffäre Ende 2013, als Erdogan vier Minister opferte, um sich und seine Familie aus der Schusslinie zu manövrieren. So war es im Mai 2016, als er den ambitionierten Premierminister Ahmet Davutoglu zur Resignation zwang.
Allerdings versuchte eine einflussreiche Clique innerhalb der AKP, die bereits maßgeblich auf den Rücktritt Davutoglus hingewirkt hatte, offenbar auch diesmal, mit Soylu einen „starken Mann“ aus dem Spiel zu nehmen. Es handelt sich um die sogenannten Pelikanisten und deren wichtigstes Medium, die regierungsnahe Zeitung Sabah. Das Blatt postete direkt nach Soylus Rücktritt einen Tweet, in dem sie ihn für die „stümperhafte Ankündigung“ verantwortlich machte und bereits einen Nachfolger ins Spiel brachte.
Machtkampf in der Türke? Spekulationen kommen zu früh
Sabah gehört der Familie des Finanzministers Berat Albayrak, Erdogans Schwiegersohn, sein möglicher Nachfolger und wichtigster Protagonist der Peilkanisten. Ambitionen auf die Erdogan-Nachfolge werden aber auch Süleyman Soylu nachgesagt. Albayral und Soylu sind sich spinnefeind. So offenbart die Corona-Krise erneut Spannungen hinter den Kulissen im Regierungsapparat.
Doch es wäre verfrüht, über einen virulenten Machtkampf zu spekulieren, wie es türkische Kommentatoren am Montag taten. „Noch hält Erdogan die Zügel straff in der Hand“, sagt der Chefredakteur des exiltürkischen Nachrichtenportals Ahvalnews, Yavuz Baydar. „Der Vorfall zeigt aber auch, dass der Corona-Erreger das Potential besitzt, sich in ein politisches Virus zu verwandeln, das immer schwerer einzudämmen ist.“
Von Frank Nordhausen
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