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Chiles neuer Präsident: Die kometenhafte Karriere des Gabriel Boric

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Von: Klaus Ehringfeld

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In Chile triumphiert der Linkskandidat Gabriel Boric bei der Präsidentenwahl überraschend deutlich – dem 35-Jährigen gelingt damit der Aufstieg vom Studentenführer zum Staatsoberhaupt.

Santiago – Die Wahllokale hatten kaum drei Stunden geschlossen, da war halb Chile schon in Feierlaune. Um kurz nach 21 Uhr tanzten, feierten, sangen und warteten bereits Zehntausende im Zentrum von Santiago auf Gabriel Boric, den strahlenden Sieger der Präsidentenstichwahl.

Er kam wie immer im Wahlkampf im Jackett, aber ohne Krawatte. Sein Auto bahnte sich mühsam den Weg durch die Menge. Die letzten Meter musste der 35-Jährige zu Fuß zurücklegen. Dann stieg Boric auf die Bühne, holte einmal kurz Luft und sagte: „Wir stehen mit den Füßen auf der Erde“ – und meinte damit, dass Entscheidungen in Chile künftig nicht von seiner Regierung innerhalb der vier Wände des Präsidentenpalastes getroffen würden, sondern kollektiv und nachvollziehbar.

Chiles neuer Präsident Boric: Wahl galt als Weichenstellung

Man hatte den Eindruck, Boric brauche selbst noch einen Moment, um den unerwartet deutlichen und schnellen Wahlsieg vom Sonntag zu verarbeiten und wirklich daran zu glauben. Hinter ihm lagen Monate eines Lagerwahlkampfes, zum Schluss gegen einen neofaschistischen Kandidaten, der eine Vision von einem anderen Chile hatte. Die Wahl galt aufgrund der gewaltigen politischen Kluft zwischen José Antonio Kast und Boric als Weichenstellung, vielen Menschen sogar als wichtigste Wahl seit Chiles Rückkehr zur Demokratie 1990.

Gabriel Boric
Überwältigt: der 35-jährige Wahlsieger Gabriel Boric. © Matias Delacroix/AP/dpa

Und das Ergebnis ist außergewöhnlich für das kleine schmale Land am Rande Südamerikas. Zum einen zieht erstmals der Kandidat in den Präsidentenpalast ein, der in der ersten Runde als Zweiter durchs Ziel ging. Boric lag am 21. November zwei Prozentpunkte hinter Kast, nun gewann er mit mehr als elf Punkten Vorsprung. Es ist nicht nur ein Erdrutschsieg, sondern auch ein deutliches Statement der Hoffnung der ansonsten so politikverdrossenen Chileninnen und Chilenen. Möglich machte den klaren Sieg eine historische Wahlbeteiligung von über 55 Prozent.

Chiles neuer Präsident Gabriel Boric: „Forderungen der Straße institutionalisiert“

Mit Boric erreicht der soziale Aufstand von 2019 den Präsidentenpalast. Was am 18. Oktober vor zwei Jahren mit dem Protest gegen eine Erhöhung der U-Bahn-Tickets begann, endete jetzt mit der Umwälzung des politischen Systems. Der Abgeordnete Boric protestierte zu Beginn des Aufstands auf der Straße selbst mit für ein neues Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell und verhandelte später mit der Rechten im Kongress ein Abkommen für die Schaffung einer Verfassunggebenden Versammlung, die derzeit ein neues Grundgesetz für das Land ausarbeitet. „Mit dem Wahlergebnis werden die Forderungen der Straße von damals institutionalisiert“, unterstreicht Claudia Heiss, Politologin an der Universidad de Chile. „Boric ist Ausdruck des Wunsches von 80 Prozent der Chilenen nach einer neuen Etappe in der Politik, ohne die Fesseln der Pinochet-Diktatur, hin zu einer gerechteren Gesellschaft und einem Sozialstaat.“

NameGabriel Boric Font
ParteiConvergencia Social
Aktuelle FunktionMitglied des Abgeordnetenhauses von Chile (seit 2018)
Künftige PositionPräsident Chile
Alter35 Jahre (11. Februar 1986)
GeburtsortPunta Arenas, Chile

Vor zehn Jahren war der bärtige Mann mit den Unterarmtattoos den meisten Chilenen noch unbekannt. 2011 betrat er die politische Bühne als Studentenführer mit langen Haaren. Seither hat er eine kometenhafte Karriere hingelegt vom Aktivisten zum Präsidenten – und das in einem Land, in dem die Politik seit Jahrzehnten von einer beamtenartigen Kaste dominiert wurde. Boric ist der erste explizit linke Kandidat, der Chile nach 1970 regieren wird, als der Sozialist Salvador Allende gewählt wurde.

Chiles neuer Präsident: Boric will das Land auf neue Grundfesten stellen

„Boric ist vernünftig, offen für den Dialog und hat aus der Komplexität der Politik gelernt“, sagt die Politologin Heiss. Früher habe er selbst gegen das politische System und die Parteien gewettert, das habe sich geändert. „Boric hat gezeigt, dass er in der Lage ist, Dinge zu tun, die seiner Basis nicht gefallen“, unterstreicht Heiss. Diese Fähigkeit wird er nun als Präsident ausgeprägt benötigen. Denn die Chancen für ihn, Chile zu verändern, sind groß, aber die Herausforderungen sind wesentlich größer.

Boric will Chile auf neue Grundfesten stellen und einen Sozialstaat europäischer Prägung schaffen. Es ist der Abschied vom neoliberalen Wirtschafts- und Sozialmodell, das seit der Pinochet-Diktatur im Land herrscht. „Wir werden kleine, aber entschlossene Schritte machen“, versicherte der künftige Präsident, der im März sein Amt antritt. (Klaus Ehringfeld)

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