Wer bei der Bundestagswahl nicht abstimmen darf

Millionen Menschen in Deutschland sind von der Bundestagswahl im September ausgeschlossen - aus ganz verschiedenen Gründen.
Als eines der wichtigsten Merkmale unserer Demokratie gilt das allgemeine Wahlrecht. Während im antiken Griechenland weder Sklaven noch Frauen wählen durften und letztere in einem Schweizer Kanton bis 1990 von der Stimmabgabe ausgeschlossen waren, sah das Bundesverfassungsgericht das Wahlrecht bereits 1951 als das „vornehmste Recht des Bürgers im demokratischen Staat“ an.
Dennoch dürfen Ende September nur rund 61,5 der 82,8 Millionen Menschen, die in Deutschland leben, einen neuen Bundestag wählen. Per Grundgesetz werden Minderjährige von dieser Wahl ausgeschlossen, ebenso wie, gestützt auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgericht, Ausländer. Zudem sieht das Bundeswahlgesetz vor, dass Gerichte im Einzelfall das Wahlrecht aberkennen können. Die FR gibt einen Überblick, wer warum betroffen ist.
Minderjährige
Kinder an die Macht? Was sich Herbert Grönemeyer vor mehr als 30 Jahren in einem Lied wünschte, ist bis heute in kaum einem gesellschaftlichen Bereich Realität, vor allem nicht beim Wahlrecht. Zwar sind Jugendliche von 14 Jahren an strafmündig – aber wählen darf laut Grundgesetz (Artikel 38) erst, „wer das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat“. Ein Sprecher des Bundesinnenministeriums begründet das mit dem „Vorhandensein eines für die Teilnahme an der Wahl erforderlichen Grades an Reife und Vernunft“. In Hamburg, Bremen, Schleswig-Holstein und Brandenburg wurde das Wahlalter bei Landtagswahlen zwar auf 16 Jahre herabgesetzt, aber nicht so bei Bundestagswahlen.
2013 hatten SPD und Linke einem Antrag der Grünen für eine entsprechende Grundgesetzänderung zugestimmt, die schwarz-gelbe Regierung lehnte den Entwurf aber ab. Im vergangenen Jahr scheiterte zudem eine Beschwerde von 15 Jugendlichen vor dem Bundesverfassungsgericht. Sie forderten das Wahlrecht für Minderjährige – mit dem Verweis auf Artikel 20 des Grundgesetzes, wo es heißt: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.“ Zu den Klägern gehörte der damals 17-jährige Felix Finkbeiner, der bereits als Neunjähriger eine Umweltschutzorganisation gründete.
Ausländer
Die mehr als zehn Millionen Ausländer in Deutschland sind von der Bundestagswahl komplett ausgeschlossen. Als Schleswig-Holstein und Hamburg 1989 Menschen ohne deutschen Pass das Kommunalwahlrecht gewähren wollten, untersagte dies das Bundesverfassungsgericht mit dem Hinweis, das Grundgesetz meine mit dem „Volk“ eben nur das deutsche Volk. Obwohl das Grundgesetz wegen der EU-Integration 1992 geändert wurde und die Teilnahme an Kommunalwahlen EU-Ausländern seither gestattet ist, blieben die Gerichte bei dieser Auslegung.
„Das Wahlrecht für EU-Bürger und Bürgerinnen macht deutlich, dass verfassungsrechtlich Staatsangehörigkeit und Wahlrecht ausdrücklich voneinander gelöst sind“, sagt Atila Karabörklü, Bundesvorsitzender der Türkischen Gemeinde in Deutschland. Dennoch: Egal, wie lange jemand hier lebt, sich engagiert, Steuern zahlt – wer keinen deutschen Pass hat, muss der Bundestagswahl fernbleiben.
Dass dies nicht so sein muss, zeigen etwa Chile oder Uruguay. Dort dürfen Ausländer unter bestimmten Bedingungen auf nationaler Ebene wählen. In Luxemburg wurde dies 2015 in einem Referendum zwar abgelehnt, doch Nicht-EU-Ausländer können dort wie in etlichen anderen europäischen Staaten zumindest an Kommunalwahlen teilhaben.
Atila Karabörklü sagt: „Wenn die Legitimität von Demokratien auf dem Wahlrecht beruht, dann liegt ein erhebliches Demokratiedefizit vor, wenn viele Millionen Menschen nicht an den Bundestagswahlen teilnehmen können.“
Behinderte
Von der Wahl ausgeschlossen sind laut einer Studie des Bundessozialministeriums von 2016 zudem 81 220 Menschen, die für die Besorgung all ihrer Angelegenheiten vom Gericht eine Betreuerin oder einen Betreuer bestellt bekommen. Betroffen sind vor allem Menschen mit Behinderung und Demenzkranke. Dies rechtfertige sich daraus, so ein Sprecher des Bundesinnenministeriums, „dass bei diesen Personen durch eine richterliche Einzelfallentscheidung feststeht, dass sie nicht in der Lage sind, irgendeine ihrer Angelegenheit selbst wahrzunehmen, also auch nicht das Wahlrecht“.
Demgegenüber schreibt die UN-Behindertenrechtskonvention aber ein Wahlrecht für Behinderte vor. Bisher gilt ein solches uneingeschränkt nur bei Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein, wo Tausende Betroffene kürzlich wählen durften. „Menschen mit Betreuung in allen Angelegenheiten müssen das Recht haben zu wählen“, fordert die Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, Verena Bentele. „Die Diskussion sollte sich mehr darum drehen, wie die Menschen durch die Politik passende Informationen erhalten.“
Die SPD-Bundestagsabgeordnete Ulla Schmidt, die auch Vorsitzende der Lebenshilfe für Menschen mit Behinderung ist, sagte der FR: „Ich bedaure sehr, dass wir in der großen Koalition keine Entscheidung hierzu hinbekommen haben, obwohl einige Abgeordnete der Union unsere Auffassung dazu teilen: Das Wahlrecht für alle ist überfällig.“
Strafgefangene und Psychiatrie-Insassen
Auch Straftätern kann das Wahlrecht aberkannt werden. Sofern Gerichte Menschen wegen einer im Zustand der Schuldunfähigkeit begangenen rechtswidrigen Tat sowie fortwirkender Gefährdung für die Allgemeinheit in ein psychiatrisches Krankenhaus einweisen, wird auch ihnen der Gang zur Urne verwehrt. Betroffen sind bundesweit gut 3000 „schuldunfähige Straftäter“. Zudem sieht Paragraf 13 des Bundeswahlgesetzes vor, dass von der Wahl ausgeschlossen wird, „wer infolge Richterspruchs das Wahlrecht nicht besitzt“. Dies kann bei Straftaten wie Landesverrat, Bestechung von Mandatsträgern oder Wahlfälschung auftreten – allerdings gab es 2014 in Deutschland nur 69 in Frage kommende Verfahren, wobei in keinem Fall das Wahlrecht entzogen wurde.
Obdachlose und Auslandsdeutsche
Menschen ohne festen Wohnsitz und im Ausland lebende Deutsche dürfen grundsätzlich wählen. Weil Obdachlose aber oft nicht im Melderegister und damit im Wählerverzeichnis eingetragen sind, erhalten sie keinen Wahlschein. Wie viele der rund 335 000 Wohnungslosen in Deutschland das sind, ist nicht bekannt. Um bei der Bundestagswahl zu wählen, müssen sie bis zum 1. September die Eintragung in ein Wählerverzeichnis beantragen. Zuständig ist das Wahlamt der Gemeinde, wo sich der Wohnungslose gewöhnlich aufhält. Der Antrag kann von Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe als Sammelantrag gestellt werden.
Mit Hürden müssen auch Deutsche kämpfen, die nur im Ausland gemeldet sind. Denn auch sie werden nicht automatisch in das Wählerverzeichnis eingetragen, sondern müssen in einem gesonderten Antrag nachweisen, dass sie in den vergangenen 25 Jahren mindestens drei Monate ununterbrochen in Deutschland gelebt haben oder „persönlich und unmittelbar Vertrautheit mit den politischen Verhältnissen in der Bundesrepublik Deutschland erworben haben und von ihnen betroffen sind“.