Desinformationen vor der Bundestagswahl 2021: Baerbock Ziel Nummer eins

Im Vorfeld der Bundestagswahl 2021 sind Desinformationen ein beliebtes Mittel zur Manipulation der Wählerschaft. Vor allem Annalena Baerbock ist Ziel von Falschinformationen.
Frankfurt – Laut einer Studie der international tätigen sozialen Bewegung Avaaz nehmen gezielte Desinformationen im Vorfeld der Bundestagswahl 2021 weiter zu. Unter allen Politiker:innen in Deutschland ist es vor allem Annalena Baerbock, die zum Ziel der Manipulationen wird. Niemand sonst musste im Jahr 2021 so viele Desinformations-Narrative erdulden wie die Kanzlerkandidatin der Grünen.
Wie Avaaz recherchiert hat, kam bereits mehr als die Hälfte aller in Deutschland lebenden Menschen mit mindestens einer Fehlinformation über Baerbock in Kontakt. Entgegen geläufiger Vorurteile sind es allerdings nicht vor allem Soziale Medien, in denen die Falschbehauptungen verbreitet werden. Gerade auch im Programm der Fernsehsender und etablierter Medien fließen unrichtige Aussagen mit ein.
Die Untersuchung deckt auf, dass 71 Prozent aller Desinformationen gegenüber den drei Personen, die für das Kanzleramt kandidieren, auf Annalena Baerbock zielen. CDU-Parteichef Armin Laschet hingegen muss sich dagegen nur gegen 29 Prozent der Manipulationen erwehren. Generell sind mit 46 Prozent die meisten der manipulativen Kampagnen gegen Politiker:innen der Grünen gerichtet. Gegen die Union richten sich 32, gegen die SPD 18 Prozent. Gegen die AfD hingegen richten sich laut Avaaz gerade einmal ein Prozent der Falschbehauptungen. Unter den von Avaaz untersuchten Desinformations-Narrativen, die von einem der drei Facebook Fact-Checking-Partner Correctiv, DPA und AFP entlarvt wurden, betrifft kein einziges SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz.
Mehr als die Hälfte aller Deutschen haben Fehlinformationen über Annalena Baerbock konsumiert
Eine von Avaaz in Auftrag gegebene Umfrage ergab, dass 56 Prozent aller Erwachsenen in Deutschland mindestens eine Falschnachricht über Annalena Baerbock gesehen haben. Die NGO nennt die Zahl von potenziell 30 Millionen Menschen, die so in Kontakt mit manipulativen Nachrichten über die Kanzlerkandidatin der Grünen in Kontakt gekommen seien. 22 Prozent der Falschmeldungen wurden demnach über die Berichterstattung im Fernsehen konsumiert, Print- und Online-Angebote etablierter Medien kommen auf einen Anteil von 18 Prozent, Facebook auf 17.
Avaaz sieht Parallelen zu den USA und zitiert die Washington Post, die eine Studie der Universität Harvard zugrunde legte, als sie berichtete, dass „die amerikanische Mainstream-Presse einen Großteil der Drecksarbeit gemacht“ und einen großen Teil dazu beigetragen habe, dass viele Menschen fälschlicherweise im Glauben seien, die Präsidentschaftswahl 2020 sei zuungunsten von Donald Trump „gestohlen“ worden.
Christoph Schott, Kampagnendirektor bei Avaaz, sagt dazu: „Eines wird klar: Desinformation hat auch in Deutschland das Mainstream-Publikum erreicht.“ Die Bundesrepublik laufe Gefahr, in die Fußstapfen der USA zu treten, wo Trumps Tweets, die ob ihres manipulativen Inhalts oft mit einem Warnhinweis versehen wurden, von den Mainstream-Medien weit verbreitet wurden. Schott weiter: „Die Antwort? Deutscher Qualitätsjournalismus. Nicht zu jeder kleinen Falschnachricht muss eine Titelstory geschrieben werden, und ob aus ‚Baerbocks Lebenslauf‘ das deutsche Pendant zu ‚Hillary’s E-Mails‘ wird, hängt am Ende auch von der Medienberichterstattung ab.“
Die NGO Avaaz fordert die Überprüfung von Nachrichten durch unabhängige Faktenprüfer
Neben der Aufarbeitung politischer Inhalten in den klassischen Medien ist es vor allem das Soziale Netzwerk Facebook, das in der Kritik steht. Obwohl das Unternehmen im Mai 2021 versichert hat, dass es die Bundestagswahl als „Top Priority“ behandeln wolle, zeigen die Untersuchungen der NGO Avaaz, dass mehr als die Hälfte aller Falschmeldungen über Annalena Baerbock nicht mit einem Warnhinweis versehen wurden.
Dies liege auch an der technischen Verarbeitung der Lügen, so Avaaz weiter. Zwar versehe Facebook Falschmeldungen mit Warnhinweisen, doch schon eine kleine Abweichung oder ein neuer Zuschnitt eines Bildes sorge dafür, dass die Manipulationen vom Algorithmus nicht mehr erkannt würden. Zusätzlich würden Nutzer:innen im Nachhinein nicht darüber aufgeklärt, dass sie Falschbehauptungen konsumiert hätten.
Kampagnenmanager Schott erklärt, dass der von Falschnachrichten beeinflusste Bundestagswahlkampf das neueste Beispiel dafür sei, warum Facebook und Co. in Brüssel durch den Digital Services Act in die Schranken gewiesen werden müsse: „Lange genug haben Plattformen die Regeln selbst bestimmt, jetzt sind unsere Demokratien an der Reihe: Transparenz, Richtigstellungen durch unabhängige Faktenprüfer und Verantwortung für die algorithmische Verbreitung von Desinformation sollten die Grundlage bilden.”
Der von Russland finanzierte TV-Sender erzeugt mehr Interaktion als Spiegel, Bild und Tagesschau
Avaaz rechnet vor, dass der von Russland aus gesteuerte staatsnahe Sender RT DE auf Facebook inzwischen mehr Interaktionen auf Facebook erzeuge als etwa Inhalte von Spiegel, Bild und der Tagesschau. Immer wieder wird RT für manipulative Meldungen und klare Falschbehauptungen kritisiert, die sich zum Teil ohne große Recherchearbeit widerlegen lassen. Der Vorwurf: Bewusst säe Russland über seinen Propagandasender Falschinformationen, um manipulativ in die deutsche Politik einzugreifen.
In der breitflächig angelegten Analyse kam Avaaz zu dem Ergebnis, dass 33 Prozent der Facebook-Posts zu den einhundert beliebtesten RT DE Website-Artikeln von Seiten mit AfD-Bezug (Partei-, Politiker-, oder Fanseiten) kamen. Die rechtspopulistische AfD selbst sei alleine im Jahr 2021 auf 64 Prozent aller Interaktionen von deutschen Partei- und Fraktions-Seiten gekommen.
Die weltweite demokratische Bürgerbewegung, der nach eigenen Angaben mehr als 66 Millionen Mitglieder aus der ganzen Welt angehören, präsentiert eine Grafik, wonach „wenn bei Facebook gewählt werden würde“ die AfD auf 66 Prozent käme. Die Union hingegen käme auf gerade einmal 13 Prozent, die Linkspartei auf neun, die FDP auf sieben, die SPD auf vier und die Grünen lediglich auf drei Prozent.
Bundestagswahl 2021: Desinformation hat die breite Bevölkerung in Deutschland erreicht
Avaaz erklärt dazu: „Wir befinden uns jetzt drei Wochen vor den Wahlen, und unsere Untersuchungsergebnisse zeigen klar auf: Desinformation hat die breite Bevölkerung in Deutschland erreicht und das Potenzial, die Wahlen zu beeinflussen. Aus der von Avaaz in Auftrag gegebenen YouGov-Umfrage geht unter anderem hervor, dass zwei Drittel der Erwachsenen in Deutschland Falschnachrichten und politisch motivierte Desinformationskampagnen als Gefahr für die Bundestagswahlen einschätzen. Die NGO erachtet daher „die verantwortungsvolle Berichterstattung im Fernsehen und in den Mainstream-Medien über Desinformations-Narrative in den letzten Wochen vor den Wahlen als absolut zentral“.
Organisation | Avaaz |
Gründung | Januar 2007 |
Sitz | New York City, USA |
Gründer | Ricken Patel |
Insgesamt drei Dinge fordert Avaaz im Zuge der Ergebnisse der Studie. Erstens sollten die Sozialen Medien zu Transparenz und „wirkungsvollen Maßnahmen“ verpflichtet werden. Die Reichweite von Desinformationen müsse offengelegt und das Vorgehen der Plattformen transparent gemacht werden. Zweitens sollten die Plattformen dazu Desinformationen nachträglich mit einer Korrektur unabhängiger Faktenprüfer:innen versehen. Und drittens solle die „aktive Beschleunigung von bekannten Falschnachrichten“ vom Algorithmus reduziert werden. (Mirko Schmid)