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Shoan Vaisi kandidiert für den Bundestag – „Alptraum“ der Rechten

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Von: Fabian Scheuermann

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Geht voran: Shoan Vaisi will in der Linksfraktion für mehr soziale Gerechtigkeit kämpfen.
Geht voran: Shoan Vaisi will in der Linksfraktion für mehr soziale Gerechtigkeit kämpfen. © Dominik Asbach

Shoan Vaisi floh aus dem Iran nach Deutschland. Als Bundestagsabgeordneter für die Linke will er nach der Wahl im September Geflüchteten eine Stimme geben. Hass soll ihn nicht bremsen.

Tareq Alaows wollte eigentlich im September für die Grünen in den Deutschen Bundestag einziehen. Doch als Geflüchteter, der 2015 aus Syrien nach Deutschland kam, zog er derart viel Hass auf sich, dass er im März den Rückzug seiner Kandidatur bekannt gab. Als Grund führte er damals „die hohe Bedrohungslage für mich und vor allem für mir nahestehende Menschen“ auf.

Für viele war Alaows’ Rückzug ein Schock. Auch für den Essener Shoan Vaisi. Doch er fühlte sich dadurch auch angespornt. Nach dem Motto: Jetzt erst recht. „Zwei Tage nach Alaows’ Rückzug habe ich meine Kandidatur für den Bundestag bekannt gegeben“, erzählt der 31-Jährige, der 2011 zu Fuß aus dem Iran in die Türkei und dann über Griechenland nach Deutschland geflohen ist, am Telefon. Auf Listenplatz 12 der nordrhein-westfälischen Linken hat Vaisi realistische Chancen, bei der Bundestagswahl 2021 den Einzug in den Bundestag zu schaffen – 7,7 bis 8,3 Prozent müsse die Partei seinen Berechnungen nach dafür bundesweit holen. Kein Selbstläufer also, wenn man auf die aktuellen Umfragewerte schaut – aber durchaus möglich. „Die Anspannung steigt“, sagt Vaisi.

Geflüchteter Vaisi tritt bei Bundestagswahl 2021 an – Zuspruch von vielen Seiten

Während für manche Kandidatinnen und Kandidaten der Wahlkampf jetzt erst so langsam beginnt, läuft er bei Vaisi seit jenem Tag im Frühjahr, als er offiziell seine Kandidatur bekannt gegeben hat, auf Hochtouren. Regelmäßig erhält er Interviewanfragen oder Einladungen zu Podiumsdiskussionen. „Und ich bekomme täglich Nachrichten von Menschen, die auch geflüchtet sind und die in mir einen möglichen Repräsentanten in der Politik sehen“, sagt Vaisi. Von vielen Seiten erhalte er ermutigenden Zuspruch. Selbst Leute von der CDU und der FDP hätten ihm geschrieben, dass sie seine Kandidatur gut und wichtig finden.

„Die Aufmerksamkeit hat mich positiv überrascht“, sagt Vaisi, der sich in den zehn Jahren seit seiner Ankunft in einem Erstaufnahmelager im hessischen Gießen ein extrem flüssiges Deutsch erarbeitet hat. Überrascht habe ihn, obwohl damit ja leider zu rechnen war, aber auch der Hass, der ihm entgegenschlägt.

Bundestagskandidat Vaisi: Rechte nur eine „Minderheit“ – die aber „sehr laut“ ist

Auf Twitter hat Vaisi deshalb zum Thema Hass eine markante Botschaft veröffentlicht: „Die Drohungen gegen Alaows haben gezeigt, wie erschreckend die Vorstellung, dass ein Geflüchteter im deutschen Bundestag sitzt, für die Rassisten in Deutschland ist. Ich möchte ihren Alptraum wahr werden lassen.“

Vaisi sagt, die Rechten, die Menschen wie ihn bedrohen, seien nur eine Minderheit – aber „eine, die sehr laut ist“. Umso wichtiger sei es, dass man dagegenhalte. Sich nicht den Diskurs diktieren lasse. Denn wenn sich Menschen aufgrund ihrer Herkunft nicht mehr trauten, in Deutschland ein politisches Amt auszuüben, „dann haben wir hier ein Demokratiedefizit“, sagt Vaisi.

Der Mann ist kein politischer Neuling. Als Kurde war er im Iran quasi von Kindesbeinen an politisiert und später auch politisch aktiv. In Sanandadsch, der Hauptstadt der Provinz Kurdistan, setzte er sich unter anderem für Frauenrechte ein – weshalb er dann auch fliehen musste.

Shoan Vaisi will 2021 in den Bundestag – Er musste hier alle Abschlüsse wiederholen

Zielstrebig baute sich Vaisi in Deutschland nach seiner Anerkennung als Flüchtling dann ein neues Leben auf. Realschulabschluss, Fachhochschulreife, Studium der Sozialen Arbeit – all das hatte Vaisi im Iran schon in der Tasche. In Deutschland musste er alles nochmals machen.

Wenn Vaisi davon spricht, von Abschlüssen, die nicht anerkannt wurden, von Jahren, die ins Land gingen, klingt dabei keine Bitterkeit durch. Im Gespräch klingt er entschlossen. Wie jemand, der nach vorne will, dabei aber trotzdem eine gewisse Gelassenheit ausstrahlt. Drei Jahre nach seiner Ankunft, 2014, trat Vaisi der Linken bei, seit 2017 ist er Deutscher.

Geflüchteter Kandidat der Linken– mit Blick für die Armut in einem Land, das von außen reich aussieht

Auch Essen sei mittlerweile seine „Heimatstadt“, sagt Vaisi. Dorthin ging er nach der Anerkennung, weil ihm Castrop-Rauxel, wo er davor in einem Flüchtlingswohnheim lebte, zu klein war. „Aber die Armut in manchen Stadtteilen hier in Essen hat mich überrascht“, erzählt er und ergänzt: „Denn wenn man Deutschland von außen sieht, sieht es perfekt aus. Das stimmt auch in vielerlei Hinsicht. Aber die Armut, die Ungleichheiten, die gibt es hier auch. Und das, obwohl das Land so reich ist.“

Armen Kindern und Jugendlichen, die oft auch Migrationsgeschichte haben, bessere Perspektiven zu verschaffen, ihnen möglichst viele Hürden der Diskriminierung aus dem Weg zu räumen, wurde zu Vaisis politischem Schwerpunkt – neben dem Wunsch nach einer humaneren Migrationspolitik, die ihm ebenfalls ein Herzensanliegen ist.

Kandidat der Linken für die Bundestagswahl 2021: „Wir müssen über Kinderarmut reden“

Am Telefon wird die Stimme des Mannes, der eine Zeitlang in der zweiten Bundesliga als Ringer gekämpft hat, etwas schneller und etwas lauter, wenn er über die Kinderarmut im Ruhrgebiet spricht, über jene Essener Stadtteile, in denen sich die Armut so balle. „Und die Pandemie“, sagt Vaisi, „hat das alles noch verschlimmert.“ Wenn arme Kinder und Jugendliche nur noch zu Hause seien, in den engen Wohnungen ihrer Familien, wenn die „soziale Infrastruktur“ wegfalle, dann falle genau das weg, „was ihnen im Leben Halt und Unterstützung gibt“.

Darüber müsse man mehr reden. Über die Ungleichheit in der Gesellschaft und darüber, dass es für Arme in Deutschland heute viel schwerer sei, sozial aufzusteigen als noch vor ein paar Jahrzehnten, wie Vaisi sagt. Er ärgert sich: „Und das in einem der reichsten Länder der Welt, das ist doch absurd!“

Geflüchteter tritt bei Bundestagswahl an – Soziale Frage nicht gegen Identitätspolitik ausspielen

Absurd findet Vaisi auch, dass im Ruhrgebiet ein Teil der ehemals sozialdemokratisch orientierten Wählerschaft das Kreuz heute bei der AfD macht – obwohl diese Partei absolut nichts für Ärmere tue. „Die Frage, warum wir als Linke diese Menschen nicht erreichen, ist berechtigt“, sagt Vaisi auch mit Blick auf parteiinterne Diskussionen.

Dennoch dürfe man die soziale Frage nicht gegen Identitätspolitik ausspielen. Man müsse beides angehen, wenn man als Linke glaubhaft sein wolle. Und ein höherer Mindestlohn etwa komme ja Menschen jedweder Couleur zugute. Vaisi will dafür streiten – im Bundestag. (Fabian Scheuermann)

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