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Vorbild für Deutschland? Rassismus-Bekämpfung hat in Brasilien jetzt ein eigenes Ministerium

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Von: Lisa Kuner

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Die neuen brasilianischen Abgeordneten (v.l.n.r.) Marina Silva, Anielle Franco, Sonia Guajajara und Celia Xakriaba nehmen an der Zeremonie zur Amtseinführung der neuen brasilianischen Abgeordneten im Plenum der Abgeordnetenkammer des Nationalkongresses in Brasilia am 1. Februar 2023 teil.
Die neuen brasilianischen Abgeordneten (v.l.n.r.) Marina Silva, Anielle Franco, Sonia Guajajara und Celia Xakriaba nehmen an der Zeremonie zur Amtseinführung der neuen brasilianischen Abgeordneten im Plenum der Abgeordnetenkammer des Nationalkongresses in Brasilia am 1. Februar 2023 teil.  © SERGIO LIMA/AFP

Unter der neuen Regierung hat Brasilien ein Antirassismus-Ministerium bekommen. Ein symbolhafter Schritt, mehr erst mal nicht. Denn der Betrag, den die Ministerin zur Verfügung hat, ist winzig.

Brasilien – Lateinamerikas größtes Land verkauft sich selbst gerne als Regenbogennation der Vielfalt. „Historisch sieht sich Brasilien als ein Land, in dem es keinen Rassismus gibt“, sagt dazu der Soziologe Luiz Augusto Campos im Gespräch mit der Frankfurter Rundschau von IPPEN.MEDIA. Er forscht an der Universität des Staates Rio de Janeiro zu struktureller Ungleichheit. „Aber das war schon immer falsch“, fügt er hinzu.

Das ist auf der politischen Ebene angekommen: Unter der Regierung von Luiz Inácio Lula da Silva gibt es erstmals ein Antirassismus-Ministerium. Wörtlich heißt es „Ministerium für ethnische Gleichstellung“. Anielle Franco, Schwester der im März 2018 ermordeten Politikerin Marielle Franco, ist seit Anfang des Jahres Antirassismus-Ministerin. „Das ist ein wichtiges Symbol“, sagt Augusto Campus. Der Kampf gegen Rassismus bekommt so in der Regierung Sichtbarkeit. 

Brasilien: Rassismus unter Ex-Präsident Jair Bolsonaro

Schwarze Menschen verdienen in Brasilien im Schnitt weniger und werden öfter von der Polizei getötet. Und sie sind öfter Opfer von Gewaltverbrechen – von rund 50.000 Mordopfern im Jahr sind 77 Prozent Schwarz. „Der strukturelle Rassismus in Brasilien hat viele ökonomische Effekte, ganz unten in der Einkommenspyramide stehen hauptsächlich Schwarze Menschen“, erklärt Augusto Campos. Von 2019 bis 2022 wurde Brasilien von dem rechtsextremen Präsidenten Jair Bolsonaro regiert, der immer wieder durch rassistische Äußerungen auffiel. Das hat auch Auswirkungen auf den Rassismus im Land gehabt: „Unter Bolsonaro hat sich die Ungleichheit noch vergrößert“, sagt der Wissenschaftler Augusto Campos.

Die Ministerin Anielle Franco steht vor einer großen Aufgabe: Die 38-Jährige kommt aus einem der ärmsten Viertel in Rio de Janeiro, der Favela Maré. Früher arbeitete sie als Lehrerin, der Tod ihrer Schwester brachte sie zum Aktivismus.  In ihrer Amtszeit will sie Armut in der Schwarzen Bevölkerung bekämpfen und den Zugang zu Bildung verbessern.

Wovon Deutschland lernen kann: Quoten an Unis

Bei der Bildung hat sich in den letzten Jahren in Brasilien schon einiges getan – besonders beim Zugang zu öffentlichen Universitäten. Dort zeigte sich der strukturelle Rassismus lange besonders auffällig – Ende der 90er besuchten gerade mal 1,8 Prozent der Schwarzen Menschen eine Hochschule. Aktivisten und Aktivistinnen protestierten dagegen – mit Erfolg: Anfang der 2000er führten erste Unis Quoten ein, seit 2012 sind sie an vielen Hochschulen Pflicht.

Mit dem „Lei de Quotas“ gehen 50 Prozent der Studienplätze an Schülerinnen und Schüler, die ihren Abschluss an einer öffentlichen Schule gemacht haben. Von diesen 50 Prozent der Plätze geht die Hälfte an Studierende, die zusätzlich aus Haushalten mit geringem Einkommen kommen. Außerdem gibt es innerhalb der quotierten Zulassung reservierte Plätze für Schwarze und indigene Menschen, konform ihres Anteils an der Bevölkerung im jeweiligen Bundesstaat. Seit 2016 gibt es auch Quoten für Menschen mit Behinderung.

Die Soziologin Rosana Heringer von der föderalen Universität von Rio de Janeiro hat zusammen mit ihrem Team die Auswirkungen des Quotengesetzes in Brasilien ausgewertet. „Wir sehen einen großen Erfolg“, sagt Heringer im Gespräch mit der Frankfurter Rundschau von IPPEN.MEDIA. „Es gibt jetzt deutlich mehr Studierende von öffentlichen Schulen, aus Haushalten mit geringem Einkommen und Schwarze oder indigene Studierende an den Unis“. Gerade bei sehr kompetitiven Fächern wie Medizin oder auch Jura merke man einen deutlichen Unterschied.

Brasilien: Antirassismus überall mitdenken

Allein von 2010 bis 2019 ist der Anteil an Schwarzen Studierenden an Unis um 400 Prozent gestiegen, der Anteil der indigenen Studierenden stieg sogar um mehr als 800 Prozent. Inzwischen sind knapp 40 Prozent der Studierenden in Brasilien Schwarz. Von einer solchen Gesetzgebung könnte sich Deutschland durchaus etwas abschauen: Vielleicht nicht mit Bezug auf Rassismus, sondern auf Klassismus: Hier beginnen 71 Prozent der Kinder aus Akademikerhaushalt ein Studium, aber nur 24 Prozent aus Arbeiterhaushalten.

Brasilien denkt währenddessen schon weiter: „Wir brauchen auch Maßnahmen, die es den Studierenden ermöglichen, bis zum Abschluss zu bleiben“, sagt Heringer. Also: Günstige Wohnmöglichkeiten, Mensen und öffentlichen Nahverkehr – daran will nun die Ministerin Anielle Franco arbeiten. Von heute auf morgen werden sich all diese Strukturen in Brasilien aber durch ein neues Ministerium nicht ändern – auch weil das nur über begrenzte Mittel verfügt. Gerade mal vier Millionen Reais (rund 700.000 Euro) stehen Anielle Franco zu Verfügung, die Ministerin denkt, sie bräuchte eigentlich 100 Millionen.

Der Soziologe Augusto Campos ist trotzdem optimistisch, dass sich am Umgang mit Rassismus in Brasilien grundlegend etwas ändert: „Das neue Ministerium hat das Potenzial, auch in andere Bereiche zu wirken“, erklärt er. Er wünscht sich, dass in allen Politikbereichen Gleichstellung mitgedacht wird.

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