1. Startseite
  2. Politik

Krieg in Bosnien: Die Toten, die Veteranen und die Unversöhnlichen

Erstellt: Aktualisiert:

Von: Tatjana Coerschulte

Kommentare

Ein Kornspeicher, der zum Ort des Grauens wurde. Bilder von Tatjana Coerschulte und Nenad Vukosavljevic
Ein Kornspeicher, der zum Ort des Grauens wurde. Bilder von Tatjana Coerschulte und Nenad Vukosavljevic © Tatjana Coerschulte/Nenad Vukosavljevic

Vor fast 30 Jahren endete der Bosnien-Krieg. Die Waffen schweigen bis heute, aber die Versöhnung ist noch lange nicht vollzogen. Friedensinitiativen sind auf sich gestellt. Eine Reportage.

Frankfurt/Sarajewo – Es sind die Gesichter, die man nicht mehr vergisst. Die Veteranen des Bosnienkrieges sind heute Anfang, Mitte 50, manche auch älter. Viele sind hochgewachsen, mit breiten Schultern – Männer, die aussehen, als könne sie so leicht nichts umhauen im Leben. Ihre Gesichter aber erzählen von etwas anderem. Slobodan zum Beispiel, ein lebenslustiger Mensch: „Ich kann nicht schlafen, solange ich noch Geld habe“, sagt der frühere Automechaniker und lacht. Wer dem Serben ins Gesicht schaut, ahnt, dass es nicht nur das ist, was ihn nicht schlafen lässt: Stirn und Wangen des 63-Jährigen sind durchzogen von tiefen Furchen. Eine feine Narbe drückt links in den Rand seiner Oberlippe. Mit einer Pferdezange hatten ihm Wärter im Lager einen Zahn herausgebrochen. Einfach so, um ihn zu quälen.

Fast 30 Jahre nach dem Ende des Bosnienkriegs sind das Land und die Menschen gezeichnet von einem Konflikt, der als der grausamste im Europa des 20. Jahrhunderts nach dem Zweiten Weltkrieg gilt. Drei Volksgruppen mit drei Religionen bekämpften sich von 1992 bis 1995: katholische Kroaten, mehrheitlich muslimische Bosniaken und orthodoxe Serben. Seit dem Abkommen von Dayton, mit dem das Morden ein Ende fand, ist Bosnien-Herzegowina als dezentraler Bundesstaat organisiert, bestehend aus der Föderation Bosnien und Herzegowina, der Republik Srpska und einem Sonderverwaltungsgebiet.

Die Religionen seien aber nicht das Trennende, sagt ein Mitarbeiter der deutschen Botschaft. In Sarajewo etwa finden sich Moscheen nicht weit von Kirchen und die nicht weit von Synagogen. Der Ruf des Muezzins und das Glockengeläut erklingen nacheinander – und nicht gegeneinander. Es ist die Unterscheidung nach Ethnien, die heute in dem Land innere Grenzen zieht, die eine Aussöhnung erschweren, wenn nicht gar unmöglich erscheinen lassen. Dabei definiere von politischer Seite niemand, was eine Ethnie eigentlich ausmache und was die Zugehörigkeit bestimme, sagt der Botschaftsmitarbeiter, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen möchte.

Innere Demarkationslinie: Friedensinitiativen bringen Veteranen zusammen

Es waren jedenfalls Nachbarn, die sich bekämpften. Dennoch sei das Etikett „Bürgerkrieg“ für den Bosnienkrieg nicht korrekt, sagt der Deutsche, weil sich kurz vor Ausbruch des Krieges die Republik Bosnien und Herzegowina für unabhängig erklärte und international anerkannt wurde.

Slobodan gehört zu einer Gruppe von Veteranen, die versuchen, die inneren Demarkationslinien zu überwinden und mit Menschen zu sprechen, die im Krieg ihre Feinde waren. Es gibt heute noch einige Hunderttausend Leute, die damals in Bosnien kämpften, paramilitärische Einheiten nicht mitgezählt. Frauen machten etwa ein Prozent der Armeeangehörigen aus, sagt Adnan. Der Moslem aus Sarajewo zog mit 19 Jahren in den Krieg, nach anderthalb Jahren verließ er die Armee und arbeitete später für die Friedensinitiative Center for Nonviolent Action (CNA, in Belgrad und Sarajewo). Das CNA hat vor zehn, 15 Jahren begonnen, Veteranen der ehedem verfeindeten Armeen zusammenzubringen. Zuerst waren es nur drei, vier Männer, inzwischen sind es Dutzende.

An diesem Wochenende Anfang März sind bei einem Treffen von rund 40 Veteranen aller drei Kriegsparteien erstmals auch offizielle Sprecher von Lagerinsassen dabei. Die Gruppe will vier frühere Gefängnisse und eine Brücke über den Fluss Bosna besuchen, auf der im Krieg 13 Zivilpersonen erschossen wurden. Der Konvoi aus Privatautos und Kleinbus wird von Polizeifahrzeugen eskortiert, auch das ist neu. Das CNA suche mit den Veteranen ausschließlich Gemeinden auf, die sie einladen oder dulden, sagt CNA-Mitbegründer Nenad Vukosavljevic. Das ist nicht überall der Fall. Einige berüchtigte Lager wie etwa in Derventa sind zwar offiziell gekennzeichnet. Während des Krieges gab es aber auch unzählige „wilde“ Lager. Vielerorts sei das ein heikles Thema, sagt Adnan: Manche Verwaltung streite ab, dass es ein Gefangenenlager auf ihrem Gebiet gegeben habe, manche Veteranen und Überlebende würden der Lüge bezichtigt.

Krieg in Bosnien: Orte des Leidens werden markiert

Als Aktivisten 2015 begannen, nicht markierte „Orte des Leidens“ mit meterbreiten blauen Aufklebern zu versehen, sei das heimlich geschehen, sagt Vukosavljevic. An diesem Wochenende hat die Gruppe für die vier Lager und die Brücke eine Erlaubnis dafür, in Zepce von dem neuen Besitzer der Hallen, der dort einen Baumarkt betreibt. An jeder Station bringen die Veteranen feierlich das Klebeschild an und stecken langstielige rote Rosen fest. Die Polizei begleitet sie, damit sie nicht gestört werden.

Der Mann in der schwarzen Outdoor-Jacke läuft durch den Mittelgang aus rohem Beton, als sei er schon einmal hier gewesen. Er öffnet eine der eisernen Türen, die rechts und links abgehen und in etwa 25 Quadratmeter große Abteile des früheren Getreidespeichers im Dorf Kacuni führen. Zielstrebig geht der Mann an das Ende eines Abteils, dreht sich um und macht ein Handyfoto. Von dort erkennt man gut, was die Räume besonders macht: Die etwa vier Meter hohen Wände enden nicht an einer Decke, sondern haben Luft bis unters Dach. Im Sommer 1993, als in dem Speicher Gefangene der kroatischen Armee interniert waren, patrouillierten auf den Mauerkronen der Wände bosnisch-herzegowinische Wachen. Ein Einschussloch in einer Wand zeugt noch davon, dass sie dabei in die Kammern schossen. Ein Veteran erzählt, dass sie auch von oben auf die Gefangenen uriniert hätten.

Der Sohn schrie nebenan: Folter in Gefängnissen im Bosnien-Krieg

In einem anderen Abteil steht Marijan und spricht über seine Leidensgeschichte in Kacuni. Der Kroate ist zum ersten Mal seit dem Krieg wieder in dem Raum, in dem er gefoltert wurde. Einige Wachleute habe er schon als Kinder gekannt, erzählt der frühere Grundschullehrer. Das Schlimmste sei gewesen, seinen Sohn nebenan schreien zu hören und nicht helfen zu können, sagt der schmale 77-Jährige. Immer wieder sei er selbst auch geschlagen worden. Wenn er nicht mehr stehen konnte, hätten ihn Wärter während der Prügel an den Armen hochgehalten.

Was „schlagen“ in den Gefängnissen und Konzentrationslagern des Bosnienkriegs bedeutete, wird im „Museum of crimes against humanity und genocide 1992 – 1995“ in Sarajewo deutlich. Die von Opfern geschaffene Ausstellung in einer dunkel gestrichenen Altbauwohnung zeigt unter anderem einen Schaukasten mit selbst gefertigten Peitschen der Wärter und Wärterinnen. Schlagstöcke mit drei Finger dicken Stahlkabeln oder einer geknoteten Stahlkette am Ende. In Kacuni etwa waren 21 Gefangene interniert, neun haben überlebt, sagt Marijan.

Als die Veteranen den aufgegebenen Kornspeicher in Kacuni verlassen, spricht der Mann in der schwarzen Jacke Marijan an. Er sei nicht als Wachmann in Kacuni gewesen, sagt der Bosnier. Aber er wolle für seine Landsleute um Entschuldigung bitten, für das, was Marijan angetan wurde. Leise reden die Männer miteinander. Marijan bleibt auf Abstand und hält den Kopf schräg zurückgeneigt, während er zuhört.

Bosnien-Krieg: Schulen stellen unterschiedliche Sicht auf Geschichte dar

Im Zentrum von Sarajewo erinnern auf dem Rasen einer Grünanlage Grabsteine an die Opfer der Belagerung von 1992 bis 1995, als die Friedhöfe nicht reichten und Tote in Stadien, Parks und Vorgärten beigesetzt wurden. Viele wurden seitdem umgebettet; diese Anlage ist ein Gedenkort. Auf den mehrsprachig beschrifteten Grabsteinen ist nicht von Krieg die Rede, sondern von der „Aggression gegen Bosnien und Herzegowina“. Dieselbe Formulierung findet sich auf einer Gedenkwand aus weißem Marmor am Studienzentrum der Gazi-Husrev-Beg-Moschee in der Altstadt, darauf die Namen der im Krieg getöteten Imame.

Die je nach Ethnie unterschiedliche Sicht auf die gemeinsame Geschichte beginnt in den Schulen: Nicht überall, aber doch in mehr als 50 Gemeindebezirken können Eltern wählen, ob ihr Kind in Fächern wie Sprache und Literatur, Religion, Geografie und Geschichte getrennt von den anderen unterrichtet wird. Die in Dayton festgelegte Segregation sollte ursprünglich sicherstellen, dass jede Volksgruppe zu ihrem Recht kommt. Inzwischen sei das so verfestigt, dass die Trennung oft diskriminierend wirke und eine Verständigung eher unterbinde, heißt es beim Forum Ziviler Friedensdienst (forumZFD), einer von Deutschland geförderten Einrichtung, die unter anderem mit Bildungseinrichtungen arbeitet.

Komplexes politisches System in Bosnien: Mehr als 100 Ministerien

Wer wie das forumZFD bei der Vergangenheitsbewältigung unterstützen möchte, muss gegen die geballte Bürokratie an: Für das Schulwesen sind die Kantone zuständig, zehn gibt es in der Föderation Bosnien und Herzegowina. Über acht Jahre hat es gedauert, bis das forumZFD erreichte, dass eine von Fachleuten entwickelte Handreichung „Holocaust und Frieden“ behördlich akzeptiert wurde. Vom kommenden Schuljahr an dürfen Lehrerinnen und Lehrer die Praxis-Tipps nutzen, um das Thema zu unterrichten.

Das Land mit seinen gerade mal rund drei Millionen Menschen beherbergt über 100 Ministerien. Die kleinen und großen Parteien, darunter die Parteien der Bosniaken (SDA), der Kroaten (HDZ) und der Serben (SNSD), blockieren einander und damit das ganze Parlament, indem sie sich auf keine Kompromisse einlassen. Die Aufrechterhaltung des Staatsapparats sehen manche im Westen als einen Grund für den seit über einem Jahrzehnt währenden innenpolitischen Stillstand. Etwa ein Zehntel des Bruttoinlandprodukts soll aus Auslandsüberweisungen herrühren, genau weiß es niemand, weil vieles bar von Hand zu Hand abläuft. Ein Teil der vor dem Krieg sozialistisch organisierten Wirtschaft ist noch in staatlicher Hand, auch viele Medien sind staatlich kontrolliert. Hinter vorgehaltener Hand heißt es, die Posten in Staatsbetrieben würden gern an Parteitreue vergeben. Es fallen immer wieder die Stichworte „Nepotismus“ und „Korruption“.

Aussöhnung in Bosnien läuft nur mühsam: Miteinander zwischen Ethnien fehlt

Als der Hohe Repräsentant der UN, der Deutsche Christian Schmidt, im vergangenen Oktober am Wahlabend vor Bekanntgabe der ersten Hochrechnungen eine Drei-Prozent-Hürde verordnete, kam vor allem von den kleinen Parteien Kritik an dem Mann, der dem Land zur Umsetzung des Abkommens von Dayton verhelfen soll. In einem Interview mit der CSU-nahen Hanns-Seidel-Stiftung erklärte der Bayer kürzlich, dass er diesen Schritt gegangen sei, um die Dauerblockade im Parlament zu lockern. Er habe die Änderung, zu der ihn sein Amt ermächtigt, nicht vorher vorgenommen, damit sein Vorhaben nicht den Wahlkampf bestimmt. Allerdings war eine mögliche Wahlrechtsänderung bereits im Sommer öffentlich Thema. In der deutschen Botschaft heißt es jetzt dazu, dass Schmidt einen anderen, pragmatischeren Ansatz verfolge als seine Vorgänger: Wenn das Kernproblem nicht zu lösen sei, löse er zuerst die kleineren Probleme. Das Kernproblem, das ist die ausstehende Aussöhnung und das fehlende Miteinander von Kroaten, Bosniaken und Serben.

Eine Mitarbeiterin des CNA schätzt, dass es für die Menschen in Bosnien und Herzegowina gar nicht mal so unmöglich sei, wieder auf ihre Nachbarn zuzugehen und eine Aussöhnung zu versuchen. Dies werde aber untergraben von nationalistischen Parteien, die so ihre Macht sichern.

Herzinfarkt wegen Ex-Wärter: Erinnerungen an den Bosnien-Krieg treffen Menschen tief

Beim Veteranentreffen kommt es einige Male zu Gesprächen wie zwischen dem Kroaten Marijan und dem Bosnier, immer wieder reicht einer dem anderen die Hand. In den Gefängnissen, die sie aufsuchen, kreuzen sich die Volksgruppen. In Tarcin hielt die bosnische Armee Serben gefangenen, in Kacuni waren ihre Gefangenen Kroaten. In Žepce internierte die kroatische Armee bosniakische Zivilistinnen und Zivilisten, in Derventa waren die Gefangenen Serben. Auf der Eisernen Brücke von Doboj erschossen Serben bosniakische Zivilistinnen und Zivilisten.

Vor dem alten Getreidespeicher in Kacuni schlägt ein 1,90-Meter-Mann plötzlich die Hand vors Gesicht und schluchzt. Der Hüne rechts von ihm, der sich auf eine Gehhilfe stützt, legt dem Weinenden die Hand auf die Schulter. Während der Tour sagen viele, dass sie nicht gewusst hätten, dass die anderen dasselbe erlebt haben wie sie. Einige berichten, sie hätten zuvor ein Beruhigungsmittel genommen, auch Slobodan. Der Serbe hat sein Bemühen um Aussöhnung teuer bezahlt: Vor einigen Jahren willigte er ein, für einen dänischen Dokumentarfilm einen seiner Peiniger aus dem Gefangenenlager in Celebici zu treffen. Esad Landžo, der vom Internationalen Gerichtshof für das frühere Jugoslawien als Kriegsverbrecher und wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt worden war, wollte nach der Haft seine Opfer um Entschuldigung bitten. Als der wegen seines Sadismus berüchtigte Ex-Wärter ihm gegenüberstand, erlitt Slobodan vor laufender Kamera einen Herzinfarkt.

Bosnien-Krieg: Jugend verlässt das Land wegen Unsicherheit

Die Veteranen genießen in Bosnien gemeinhin gesellschaftliches Ansehen. Trotzdem müssten sie sich in ihren Wohnorten oft für die Gedenktreffen rechtfertigen, einige würden regelrecht geschnitten, sagt eine Mitarbeiterin des CNA. Die nationalistische Stimmung setzt sich im Ausland fort: Manche, die heute im Exil leben, heizen sie über die sozialen Medien an. Die CNA-Mitarbeiterin zeigt im Bus auf ihrem Handy einen Post, in dem ein Mann im kanadischen Calgary die Bosnier zu den Waffen ruft und schreibt, er werde sich sofort auf den Weg machen, wenn es zum Kampf kommt. „Sie sind nicht hier, sie leben sicher, aber sie wollen uns sagen, was wir tun sollen“, ärgert sich ein Veteran. Der deutsche Botschaftsangehörige ist davon überzeugt, dass die Menschen in Bosnien keinen Krieg mehr wollen – auch wenn die Selbstbewaffnungsquote hoch sei.

Die junge Generation reagiert auf ihre Art auf den Nationalismus und politischen Stillstand in ihrem Land: Sie geht. Es sei nicht unbedingt die wirtschaftliche Lage, sondern die latente Unsicherheit und Stagnation, die sie dazu treibe, sagt ein westlicher Beobachter. Angeblich wandern Zehntausende Jahr für Jahr aus – exakt weiß es niemand. Bevölkerungsregister sollen ungenau sein, Wählerverzeichnisse listen angeblich auch mal Ausgewanderte und selbst Tote auf. Es sind die Jungen und Fähigen, die gehen, und das könnte für das Land ein existenzielles Problem werden. UN-Prognosen sagen voraus, dass bis 2050 etwa 500 000 Menschen Bosnien und Herzegowina verlassen werden. Manche halten das noch für optimistisch. In nicht allzu ferner Zukunft werde Bosnien und Herzegowina ein „europäischer Nationalpark“ sein – sehr schön, aber mit sehr wenigen Menschen. (Tatjana Coerschulte)

Transparenzhinweis: Diese Reise wurde ermöglicht durch den Zivilen Friedensdienst, der von der Bundesregierung gefördert wird. Das CNA ist eine der lokalen Partnerorganisationen des Zivilen Friedensdienstes in Bosnien und Herzegowina.
 

Auch interessant

Kommentare