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Boris Palmer will sich nicht „mundtot“ machen lassen: „Cancel Culture“ als wahre Bedrohung

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Von: Mirko Schmid

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Boris Palmer findet Rassismusvorwürfe gegen ihn absurd. Vielmehr sieht er die Gesellschaft durch „Cancel Culture“ bedroht.

+++ 14.10 Uhr: Tübingens OB Boris Palmer will sich für seine umstrittenen Äußerungen allenfalls bei Fußballer Dennis Aogo entschuldigen – sonst nicht. „Diese Entschuldigungsforderungen sind ja Teil der Empörungsrituale, mit denen versucht wird, Leute mundtot zu machen“, sagte der Grünen-Politiker in einem Interview der Wochenzeitung Die Zeit.

Es geht hier um etwas viel Größeres als nur um einen Satz. „Es geht um die Cancel Culture, in der ich eine ernsthafte Bedrohung für die offene Gesellschaft sehe.“ Er halte seinen Kopf aber aufrecht und wolle den Kommentar bei Facebook auch nicht löschen. „O Gott, nein! Das wird mir nachher noch als Schuldeingeständnis ausgelegt.“ Mit Cancel Culture wird der angebliche Ausschluss von Personen oder Organisationen wegen Beleidigungen oder Diskriminierung bezeichnet.

Boris Palmer: Führende Grüne halten Ausschlussverfahren für „unvermeidlich“

Update vom Dienstag, 11.05.2021, 09.15 Uhr: Grünen-Chef Robert Habeck hat das Parteiausschlussverfahren gegen seinen Parteikollegen und Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer als „unvermeidlich“ bezeichnet. Die Sätze, die Palmer am Freitag auf seiner Facebook-Seite gepostet habe, seien „beleidigend und rassistisch“ und „eines Oberbürgermeisters ungehörig“, sagte Habeck am Montag bei einer Pressekonferenz.

Auch die Bundestagsabgeordnete und frühere Landwirtschaftsministerin Renate Künast äußerte sich zur Causa Palmer. „Das Fass ist übergelaufen. Das geht so nicht mehr, denn er hat schon oft provoziert. Und dann hat eine Partei auch das Recht, zu sagen, da ist das grüne Band zwischen uns und dir zerrissen, und wir stellen einen Antrag auf Ausschluss. Ich halte das für richtig“, so die Grünen-Politikerin im Fernsehsender phoenix.
 

Boris Palmer weist Rassismus-Vorwürfe zurück: „Hatte keine Ahnung, welches Erdbeben ich auslöse“

Update vom Montag, 10.05.2021, 09.15 Uhr: Mit seinen umstrittenen Äußerungen hat Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer nach eigenen Worten keine Aufmerksamkeit erhaschen wollen. „Nein, das war kein Kalkül, auch keine Provokation für die Öffentlichkeit“, schrieb der 48-Jährige am Montagmorgen auf Facebook. „Ich hatte keine Ahnung, welches Erdbeben ich da mal wieder auslöse.“ Die Grünen werfen ihrem Parteikollegen wegen einer Aussage über den früheren Fußball-Nationalspieler Dennis Aogo, der einen nigerianischen Vater hat, Rassismus vor und wollen ihn aus der Partei ausschließen. Der Landesparteitag in Baden-Württemberg hatte am Samstag für ein Ausschlussverfahren gegen Palmer gestimmt.

Boris Palmer weiter Thema bei den Grünen: Habeck vor Journalisten

Der Oberbürgermeister erklärte: „Ich wollte einem meiner langjährigen innerparteilichen Gegner zu verstehen geben, wie absurd ich seine konstruierten Rassismusvorwürfe finde, indem ich ihm einen Rassismusvorwurf präsentiere, der so vollkommen abstrus ist, dass es sogar ihm auffallen müsste. Gewissermaßen pädagogische Satire.“ Er hätte sich aber denken müssen, „was der daraus machen würde“. Das habe er sich aber nicht vorstellen können, schrieb Palmer. „Den Vorwurf der Naivität lasse ich mir deshalb gefallen.“

Das Thema könnte an diesem Montag (10.05.2021) auch eine Rolle spielen, wenn der Parteirat der Grünen per Videokonferenz tagt. Parteichef Robert Habeck will sich anschließend Fragen der Journalisten stellen.

Boris Palmer begrüßt Parteiausschlussverfaren der Grünen

Update, 09. Mai 2021, 9.00 Uhr: Boris Palmer hat dem Parteitag der Grünen in Baden-Württemberg empfohlen, dem Antrag auf ein Ausschlussverfahren gegen ihn selbst zuzustimmen. Das gebe ihm die Gelegenheit, sich zu den Rassismus-Vorwürfen gegen seine Person zu äußern, so Palmer.

Zuvor hatte sich der Oberbürgermeister Tübingens zum Parteitag schalten lassen und Stellung bezogen. Es handele sich um „haltlose und absurde Vorwürfe“ gegen ihn, sagte Palmer laut der Nachrichtenagentur dpa. Es gehe seinen Gegnern nur darum, unliebsame Stimmen in der Partei mundtot zu machen. „Deshalb kann und will ich nicht widerrufen“, so Palmer.

Rassismus-Vorwürfe gegen Boris Palmer: Ausschlussverfahren beantragt

Erstmeldung, 08. Mai 2021, 17.07 Uhr: Heilbronn - Den Grünen in Baden-Württemberg reicht es mit Boris Palmer. Mit einer Mehrheit von 75,59 Prozent hat der digitale Landesparteitag der Südwest-Grünen beschlossen, ein sogenanntes Parteiordnungsverfahren gegen den Bürgermeister von Tübingen einzuleiten. Gegen den Start eines solchen Verfahrens mit dem Ziel des Ausschlusses des immer wieder mit populistischen Provokationen auffallenden Kommunalpolitikers stimmten lediglich 20 Prozent der Delegierten.

Es ist ein Schritt, der sich lange angedeutet hat. Palmer eckte bei den Grünen immer wieder an mit seinen Äußerungen, die aus der Sicht vieler Parteimitglieder mit den Werten der Grünen nicht vereinbar waren. So setze er sich unter anderem für Tierversuche ein, unterstützte die Verleihung des Bundesverdienstkreuzes an eine Publizistin, der Antisemitismus vorgeworfen wird, sprach im Zusammenhang mit Geflüchteten von „überlasteten Aufnahmekapazitäten“, wollte abschieben lassen und angeblich sichere Herkunftsländer benennen.

Boris Palmer wollte Geflüchtete kategorisieren, wollte die „Frage“ stellen, „ob Menschen, die aus wirtschaftlichen Gründen zu uns kommen, die aus purer Not zu uns kommen, ob die den gleichen Grund haben, bei uns Unterschlupf zu finden, wie Menschen die vor Krieg fliehen“. Und beantwortete sie gleich selbst: „Und ich glaube, die Antwort ist nein.“ Während der humanitären Krise im Jahr 2015 sprach der Grüne davon, dass Deutschland „nicht Platz für alle“ habe.

Online-Parteitag Grüne Baden-Württemberg
Boris Palmer bezieht auf dem Parteitag der Grünen Stellung zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen. © Marijan Murat

Boris Palmer will die Grenzen während der humanitären Krise 2015 „notfalls bewaffnet“ schließen

Auch mit seinem Vorschlag, Menschen in Erstaufnahmeeinrichtungen statt Geld nur noch Sachleistungen zur Verfügung zu stellen, sorgte Palmer für Kritik. 2015 forderte er, die EU-Außengrenzen „notfalls bewaffnet“ zu schließen. Der Bürgermeister von Tübingen entschuldigte sich anschließend für seine Wortwahl, doch nur wenige Monate später sprach er schon wieder davon, die europäischen Grenzen mit Zäunen und Grenzschützern absichern zu lassen.

Boris Palmer befürchtete im Zusammenhang von Geflüchteten und ihren „anderen Einstellungen zu Frauenrechten, religiöser Toleranz und Umweltschutz“ öffentlich, dass deren Migration „eine Gesellschaft zurückwerfen“ könne und forderte, minderjährige Geflüchtete bis zu einem vorgelegten Beweis ihres Alters als Erwachsene zu behandeln. Dies begründete er mit „erheblichen Kosten und offenkundigen Gefahren, die von dieser Gruppe junger Männer“ ausgehe.

„Migranten abgebildet“: Boris Palmer beschwert sich über Werbeaktion der Deutschen Bahn

2019 beschwerte Boris Palmer sich über die Deutsche Bahn, als diese im Rahmen einer Werbekampagne ausschließlich Menschen abbildete, in denen Palmer Migrant:innen sah. Die Bahn fragte Palmer daraufhin öffentlich, ob er denn „ein Problem mit einer offenen und toleranten Gesellschaft“ habe.

Der Tübinger OB forderte im Jahr 2018 mehrfach öffentlich, man möge „auffällige“ Geflüchtete doch in entlegenen Gegenden unterbringen und dort unter Polizeibewachung stellen lassen. Und damit meinte Palmer nicht nur strafrechtlich Verurteilte, sondern dezidiert auch „Störer“ und „Tunichtgute“.

In Tübingen lässt Boris Palmer eine Liste mit „auffälligen“ Geflüchteten anlegen

Boris Palmer ließ in Tübingen eine Liste solcher „auffälligen“ Geflüchteten anlegen, nachdem das Innenministerium in Baden-Württemberg - geführt von der CDU - ihm ausrichten ließ, dass für seine Forderung „keine Grundlage“ vorhanden sei. Immer wieder setzte es für Palmer harte Kritik aus den eigenen Reihen. Bereits 2016 rückte die damalige Bundespartei-Chefin Simone Peter von ihm ab: „Wer Zäune und Mauern zur Begrenzung der Einwanderung von Flüchtlingen fordert, spielt in erster Linie rechten Hetzern in die Hände.“

2018 forderten einige Grüne in einem offenen Brief, Boris Palmer aus der Partei auszuschließen. Palmer nannte das „Meinungstyrannei“. Als er im April 2020 im Zusammenhang mit den Corona-Maßnahmen der Regierung von Menschen sprach, die man rette, obwohl diese „in einem halben Jahr sowieso tot wären“, nannte das der damalige Stuttgarter Oberbürgermeister Fritz Kuhn „sozialdarwinistisch“. Palmers eigener Tübinger Kreisverband forderte ihn „dringend“ auf, „seine Haltung zu überdenken“.

NameBoris Erasmus Palmer
PositionOberbürgermeister Tübingen (seit 2007)
ParteiBündnis 90/Die Grünen
Alter48 Jahre (28. Mai 1972)

Boris Palmer relativierte seine Worte im Nachhinein. Niemals habe er älteren oder kranken Menschen das Recht zu leben absprechen wollen. Er sei sich keiner Schuld bewusst.

Boris Palmer zitiert einen Beitrag eines fragwürdigen Accounts und nutzt rassistische Vokabel

Nun scheint der Geduldsfaden der Grünen in Sachen Boris Palmer endültig gerissen. Grund dafür war ein Debattenbeitrag auf Facebook. Palmers Beitrag vorausgegangen war die Behauptung eines Accounts namens „Nadine Pahl“, der ehemalige Fußballer Dennis Aogo habe einer Frau am Strand ein sexuelles Angebot gemacht und dabei einen rassistischen Ausdruck benutzt. Der Account dieser „Nadine Pahl“ ist bei Facebook inzwischen nicht mehr auffindbar, das „Profilbild“ des offensichtlichen Fake-Accounts ist einer US-amerikanischen Online-Anzeige der Bilder-Plattform Pinterest entnommen.

Doch anstatt die Aussagen des zweifelhaften Accounts zu hinterfragen, sprang Boris Palmer direkt darauf an, und schrieb auf Facebook über Aogo, dieser sei ein „schlimmer Rassist“. Auch wiederholte Palmer die rassistische Vokabel aus dem Beitrag des Accounts mit dem Pinterest-Profilbild.

Parteichefin und Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock ging ebenfalls auf Distanz zum Oberbürgermeister Tübingens. Sie schrieb auf Twitter: „Die Äußerung von Boris Palmer ist rassistisch und abstoßend. Sich nachträglich auf Ironie zu berufen, macht es nicht ungeschehen. Das Ganze reiht sich ein in immer neue Provokationen, die Menschen ausgrenzen und verletzen.“ Baerbock kündigte zudem an: „Boris Palmer hat deshalb unsere politische Unterstützung verloren. Nach dem erneuten Vorfall beraten unsere Landes- und Bundesgremien über die entsprechenden Konsequenzen, inklusive Ausschlussverfahren.“

Auf Twitter hagelt es Kritik an Boris Palmer

Ähnlich scharf fällt die Kritik anderer Kommentator:innen auf Twitter aus. Der Journalist Krsto Lazarević schreibt: „Seit Jahren höre ich nach jedem Grenzüberschritt von Boris Palmer das Gleiche. Er will nur Aufmerksamkeit. Er macht doch gute Lokalpolitik. Er hat es doch nicht so gemeint. Alles Bullshit. Er meint es genauso und es ist an der Zeit ihn endlich aus der Partei zu werfen.“

Aria Shavit will Boris Palmer einen Verweis auf seine eigene Familiengeschichte nicht durchgehen lassen: „Ich als Jüdin finde es besonders widerlich, wie Palmer jedes Mal die Biografie seines jüdischen Großvaters vorschiebt, um sich und seinen nicht minder provokanten Vater zu legitimieren und von Rassismusvorwürfen freizusprechen.“ Comedy-Autorin Jasmina Kuhnke, selbst häufig Ziel rassistischer Anfeindungen, schreibt: „Ein Bürgermeister, der das N-Wort nutzt - wessen Gesellschaft soll das abbilden?“

Die Grüne Jugend wollte Boris Palmer schon 2015 loswerden

Der ehemalige FAZ-Korrespondent Hendrik Wieduwilt ordnet ein: „Wer sich bei Palmer in grammatische Exegesen schraubt, hat eines nicht kapiert (oder will es nicht kapieren): Palmer fand‘s richtig GEIL mal das N-Wort rauszuballern, sonst nichts. Es ist ein Statement, ein Fuß im Nacken Dunkelhäutiger. Meine Güte, dass man da diskutieren muss.“

Timon Dzienus, Bundesvorstandsmitglied der Grünen Jugend, betont, dass die Jugendorganisation der Grünen schon vor Jahren gefordert hatte, zu handeln: „Die Grüne Jugend hat übrigens schon 2015 gefordert, den widerlichen Rassisten Palmer aus der Partei zu werfen. Das ist lange überfällig.“ Dzienus beendet seinen Tweet mit dem Hashtag „#TschüssKotzbrocken“.

Boris Palmer ist davon überzeugt, dass ihn „seine Partei mehr denn je braucht“

Boris Palmer selbst hat sich zum Schritt seiner Landespartei noch nicht öffentlich geäußert. Noch vor dem mit großer Mehrheit beschlossenen Parteiordnungsverfahren sprach er auf Facebook von einer „moralischen Empörung“, die „freien Lauf“ erhalte. Das passt zu seinen Worten, die er kürzlich per Live-Schalte in der Sendung von Maybritt Illner von sich gab: „Ich werde nicht anfangen leiser, stiller oder mit der Schere im Kopf zu argumentieren.“

Schon bald könnte er seine Argumente als ehemaliges Parteimitglied der Grünen äußern müssen. Und das, obwohl er, wie er in seiner Verteidigungsrede während des Landesparteitages betonte, davon überzeugt sei, „dass mich meine Partei heute mehr denn je braucht“. Mehr als zwei Drittel des Parteitages sahen das anders. (Mirko Schmid)

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