Palmer und seine Kontroversen: Eine Überdrehung zu viel
Erst das N-Wort, dann Parteiaustritt und Auszeit: Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer ist an sich selbst gescheitert.
Frankfurt/Tübingen – Am Ende war der „Judenstern“-Vergleich von Boris Palmer der eine Tropfen, der das Fass der Provokation zum Überlaufen brachte. Am Dienstag (2. Mai) meldete sich Tübingens Oberbürgermeister im Rathaus seiner Stadt krank, wie eine Sprecherin gegenüber der Frankfurter Rundschau bestätigte. „Dazu, was seine angekündigte Auszeit bedeutet, können wir zum jetzigen Zeitpunkt noch keine Auskunft geben“, hieß es seitens der Stadtverwaltung. Palmer selbst gab dazu am Dienstag keine Auskunft.
Einen Tag zuvor hatte der 50 Jahre alte Politiker die Grünen verlassen, nachdem er am Freitag (28. April) auf einer Migrationstagung in Frankfurt das „N-Wort“ verwendete und am Rande der Veranstaltung mit „Nazis raus“-Rufen konfrontiert worden war. Seine Reaktion, die auf einem Video der FR dokumentiert ist: „Das ist nichts anderes als der Judenstern. […] Wenn man ein falsches Wort sagt, ist man ein Nazi.“

Nach Parteiaustritt: Grüne zollen Palmer Respekt
Mit der „Judenstern“-Äußerung habe Palmer eine Grenze überschritten, sagte Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) am Dienstag. Dennoch nötige ihm die Entscheidung Respekt ab. Kretschmann sagte, er sei mit Palmer befreundet – und bleibe das.
Selbst frühere parteiinterne Gegnerinnen und Gegner ließen am Dienstag rhetorische Milde walten, erkennbar bemüht, nicht nachzutreten, und zollten Palmer Respekt für den Parteiaustritt – wissend, dass die Grünen ihren Stachel im Fleisch der Partei künftig los sind. Dessen Schritt sei „respektabel, und ich wünsche ihm ein gutes Leben“, sagte Parteichef Omid Nouripour. „Ich würde es begrüßen, wenn man sich alle Häme spart“, schrieb der frühere Abgeordnete Volker Beck auf Twitter. Die Ankündigung einer „Auszeit“ zeuge „von Einsicht mit der Aussicht auf Neuausrichtung und Selbstreflexion“.
Wie der Vater, so der Sohn? Helmut Palmer wusste stets zu polarisieren
Es ist anzunehmen, dass sich Palmers kontemplative Auszeit vor allem auf die „Judenstern“-Äußerung bezieht, die er am Montag (1. Mai) zurücknahm: „Als Politiker und Oberbürgermeister hätte ich niemals so reden dürfen“, schrieb er in einer Erklärung. Die Erwähnung des Judensterns sei „falsch und völlig unangemessen“ gewesen. In dem Text verwies Palmer auch auf seinen Vater, „der mit dem Judenstern auf der Brust gegen Unrecht demonstrierte“. Das habe „tief sitzende Erinnerungen wachgerufen“, schrieb Palmer.
Womöglich liegt hier ein biografischer Schlüssel für das Verhalten Palmers. Helmut Palmer war in Baden-Württemberg bis zu seinem Tod 2004 als „Remstalrebell“ bekannt, die Welt bezeichnete ihn mal als „Deutschlands ersten Wutbürger“. Mehr als 400 Tage saß er im Gefängnis, weil er Beamte beleidigt hatte – oder Straßen eigenmächtig mit dem Betonmischer zu Leibe gerückt war.
Der rebellische Obstbauer nahm als meist parteiloser Kandidat an Dutzenden Wahlen teil, ohne je ein Mandat zu gewinnen, zog gegen Behörden zu Felde, mit Plakaten und Trommeln munitioniert, zum Haftantritt auch mal in ein blaues Hemd mit gelbem Judenstern auf der Brust gekleidet. Der Tabubruch des Nonkonformisten war als Mahnung gedacht, denn der Sohn eines jüdischen Vaters kämpfte zeitlebens auch gegen den kleinen und großen Antisemitismus im Ländle.
Plötzlich freier Radikaler: Um Boris Palmer könnte es ruhig werden
Dass sich Palmer junior im Erbe seines rebellischen Vaters als zivilgesellschaftlicher „Unruhestifter“ verortet, überrascht nicht – allerdings hat der Sohn mit seiner „Judenstern“-Äußerung und der damit verbundenen Täter-Opfer-Umkehr nun den Bogen überspannt, erst recht im Land der NS-Täter:innen. Dazu kam noch die trotzige Obsession, unbedingt das geächtete „N-Wort“ aussprechen zu müssen, obwohl es seit Jahrhunderten für eine Entmenschlichung Schwarzer missbraucht worden ist. Trotz aller Versuche, die Wahl seiner Worte zu erklären: Der Eklat war programmiert – und für den Profi Palmer keine Überraschung,
Nicht unerwähnt bleiben sollte, dass Medien solche Provokateur:innen aufbauen. Obwohl er strenggenommen ein baden-württembergischer Lokalpolitiker ist, konnte sich Palmer überregionaler Aufmerksamkeit sicher sein – inklusive Talkauftritte und lukrativer Buchverträge. Der Gipfel der Inszenierung schien erreicht, als er 2019 mit großem Medientross Berlin besuchte, um auf Einladung von Ex-CDU-Fraktionschef Burkard Dregger, dem Sohn Alfred Dreggers, den als Drogenumschlagplatz berüchtigten Görlitzer Park zu thematisieren.
Allerdings hat Palmer mit seinem Austritt einen Teil seines medialen Resonanzraumes verloren. Als Grünen-Politiker konnte er mit gezielten Minderheitsmeinungen, die quer zur Parteiräson standen, für Aufmerksamkeit sorgen – und die zufrieden gewordenen Grünen bis aufs Blut reizen. So praktizieren es auch Sahra Wagenknecht in der Linkspartei und früher Thilo Sarrazin in der SPD sowie Oswald Metzger bei den Grünen. Seit Sarrazin aus der SPD geflogen ist und Metzger CDU-Mitglied wurde, ist es still um die beiden geworden. Wagenknecht wird sich überlegen, ob eine Parteineugründung die für sie beste Wahl ist. Als Enfant terrible einer Partei lässt es sich effektiver polemisieren als im Status freier Radikaler. (Martin Benninghoff)