Zu Beginn hielt man die Besatzung für eine temporäre Erscheinung. Israel hatte gewonnen, aber erkannte an, dass es internationale Gesetze gibt, an die jeder gebunden ist, selbst wenn man sich nicht daran hält. Hinsichtlich des Respekts gegenüber solchen Normen hat sich etwas massiv verändert. Junge Israelis finden solche Normen eher lästig und an der Herrschaft über ein anderes Volk nichts dabei.
Sehen Sie darin eine Gefahr für die israelische Demokratie?
Es ist eine Erosion in Israels legalem und moralischem Unterbau im Hinblick auf die Gebiete passiert. Wir sehen das in Untersuchungen über junge Leute. Sie denken, Demokratie ist nur für Juden, und dass das Versagen von Minderheitenrechten dazu nicht im Widerspruch steht. Das kommt von der Besatzung. Es ist eine totale Verzerrung dessen, was Demokratie heißt, die mit Universalismus einhergeht. Dieser universale Gedanke ist heute im israelischen Gemeinwesen nicht vorhanden.
Israel scheint damit gut durchzukommen. UN-Resolutionen, wonach die Besatzung illegal ist, blieben bislang stets folgenlos.
Das ist ein Resultat der Machtverhältnisse in der Region. Israel ist gewissermaßen ein Subunternehmerstaat, den sowohl Europa als auch die USA brauchen, um andere Nahoststaaten in Schach zu halten. Nach dem Motto: „Wir sichern hier den Frieden, und ihr lasst uns die Gebiete erobern.“ Dabei hätte die internationale Gemeinschaft durchaus Mittel, Israel Druck zu machen. Aber sie unterlässt dies, bis vielleicht irgendwann der Preis dafür zu hoch wird. Die politische Konsequenz ist, dass Israel keine klaren Grenzen hat.
Außerdem behindert die ungelöste palästinensische Frage eine Integration Israels in den Nahen Osten.
Ich glaube nicht, dass Israel diese Integration überhaupt will. Frieden und wirtschaftliche Integration – ja vielleicht. Aber es wird niemals kulturell und religiös integriert sein. Weil die arabischen Staaten das nicht wünschen, und weil die Israelis unnachgiebig am jüdischen Charakter ihres Landes festhalten. Ein Utopist mag sich eine Staatenkonföderation in Nahost analog zur Europäischen Union vorstellen. Ich bezweifle, dass die israelische Regierung danach strebt.
Es gibt allerdings ein widersprüchliches Phänomen in Israel. Auf der politischen Ebene sind anti-arabische Slogans populär, sogar Premier Benjamin Netanjahu ging damit auf Stimmenfang. Aber das Volk hat zugleich ein Faible für arabische Kultur entdeckt. Junge Israelis rennen in Konzerte mit arabischer Musik, rauchen Schischa und besuchen Bauchtanz-Festivals. Vielleicht wächst da von unten der Wunsch, zum Orient gehören zu wollen?
Nicht das, was wir tun, macht Identität aus, sondern das, was wir uns vorstellen, jedenfalls zum größeren Teil. Die Mehrheit der Juden in Israel stammt ursprünglich aus arabischen Ländern. Aber sie würden sich niemals „Juden arabischer Abstammung“ nennen. Diese sephardischen Juden, auch Misrahim genannt, die in Israels frühen Jahren ins Land kamen und in immenser Weise vom europäischen Establishment ausgeschlossen wurden, suchen eine Antwort darauf. Noch heute sind sie kaum in den Universitäten zu finden.
Außer Ihnen ...
Ich bin in Frankreich aufgewachsen, nicht hier. Jedenfalls wäre es politisch schlau gewesen, hätten die nach Israel eingewanderten und unter Diskriminierung leidenden Misrahim es den Afroamerikanern nachgemacht, die sich während der US-Bürgerrechtsbewegung mit den Juden dort zusammen taten. Sie hätten eine Allianz mit der arabischen Minderheit in Israel eingehen können, um vereint ihre Rechte einzufordern. Aber das war für sie eine unmögliche Vorstellung, weil Juden in Israel ihre jüdische Identität als primär begreifen, was fast alle anderen Identitäten ausschließt.
Heißt das, aus der Schischa, der arabischen Wasserpfeife, wird am Ende ein jüdisch-israelisches Nationalsymbol? So wie es bereits den arabischen Gerichten wie Hummus und Falafel ergangen ist?
Alle Nationen erfinden ständig neue Traditionen. Es gibt einen starken Drang, uns lokal zu verorten, um uns zugehörig zu fühlen. Mit den Jahren ist hier das Jüdischsein immer wichtiger geworden, selbst wenn das im arabischen Kostüm geschah: Miri Regev, unsere Kulturministerin marokkanischer Abstammung, hat sich kürzlich beschwert, das Musikprogramm unseres Militärsenders sei zu westlich. Nicht etwa, weil sie sich sorgte, Araber könnten sich ausgeschlossen fühlen, sondern weil sie sephardische Juden besser repräsentiert sehen wollte. Alles dreht sich inzwischen bei uns darum, „genug jüdisch zu sein“. Netanjahu hat das vorgemacht und damit die Juden von der Welt isoliert.
Das politische Klima hierzulande gibt auch manchen Israelis Anlass zur Besorgnis. Vizegeneralstabschef Yair Golan sprach letztes Jahr zum Gedenktag an die Schoah von Elementen in Israel, die ihn an die dunkelsten Stunden in Europa erinnerten. Auch Sie werfen in einem Essay über Hannah Arendts These von der „Banalität des Bösen“ die Frage auf, „was, wenn überhaupt, hat Israel zu einem bösen Staat gemacht“. Ist der Begriff nicht zu toxisch für eine rationale Debatte?
Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich finde die Analogie zur Nazi-Politik grotesk. Ich diskutiere auch nicht mit jemandem, der Israel mit Nazi-Deutschland vergleicht. Im Unterschied zu einigen linken Freunden denke ich, dass das jüdische Volk 1948 das politische wie moralische Recht auf einen eigenen Nationalstaat hatte. Als das meist verfolgte Volk der Geschichte waren die Juden dazu sogar berechtigter als andere Völker. Außerdem gab es den UN-Teilungsplan des historischen Gebietes Palästina. Ich kann verstehen, warum die Palästinenser ihn damals abgelehnt haben. Aber was die Juden taten, war legitim und nötig. Nur, Israel hat sein moralisches Recht untergraben, indem es sich in ein illegitimes koloniales Projekt der Okkupation begab.
Worin besteht dabei „das Böse“?
In meinen Augen ist die Besatzung die Bürokratisierung des Bösen. Wenn man das Leben der anderen mit Waffengewalt, Inhaftierung, Reiseblockaden und dergleichen dominiert, und wenn ein erheblicher Teil der israelischen Gesellschaft dies nicht wahrnimmt oder rechtfertigt, dann gerät man in diese Kategorie. Das Böse beginnt mit der Gleichgültigkeit oder dem Blindsein gegenüber nackter Gewalt.
Sehen Sie 1967 als Wendepunkt, an dem der Zionismus – ursprünglich eine jüdische Befreiungsbewegung – in religiösen Nationalismus umschlug?
Das lässt sich so genau nicht festmachen. Noch nach 1967 gab es eine Periode, während der Israelis und Palästinenser ohne Krieg nebeneinanderher lebten. Juden und Araber bewegten sich frei und die Besatzung schien nichts Böses an sich zu haben. Erst als 1987 die erste Intifada begann, wurde klar, dass die Palästinenser keine Lämmer sind, die alles akzeptieren, was ihnen geschieht. Ihr Aufstand führte zu einem Wendepunkt im israelischen Bewusstsein.
Jassir Arafat und die PLO hatten bereits in den 70er Jahren mit Terrorakten auf die Palästina-Frage aufmerksam gemacht.
Für die Israelis war sie nicht existent. Sie waren erstaunlich blind gegenüber der Präsenz der Araber und ihrer Rechte. Ein ähnliches Phänomen kennen wir aus dem europäischen Kolonialismus. Mit dem Ausbruch der Intifada wurden die Palästinenser erstmals als Zivilbevölkerung wahrgenommen und nicht auf eine Terrororganisation reduziert. Es folgten die Osloer Abkommen und schließlich das Scheitern des Friedensprozesses, für das man sich gegenseitig beschuldigte. Erst mit der zweiten Intifada im Jahr 2000 entwickelte die Besatzung ein System aus Checkpoints, Mauern, Präventivhaft und Häuserabrissen, um gegen eine Bevölkerung vorzugehen, die als Feind begriffen wurde.
Welche Rolle spielte dabei die Siedlerbewegung, die auf die frühen 70er Jahre zurückgeht?
Anfänglich war sie recht marginal...
Aber sie trat entschlossen auf.
Stimmt. Sie war wie Donald Trump zu Beginn, niemand nahm sie ernst. Die Siedler wurden gesehen wie Typen aus dem La-La-Land.
Jetzt sitzen sie in der Regierung. Was heißt das, wenn eine Randgruppe radikaler Siedler an der Macht beteiligt ist?
Das heißt, dass sie dorthin fast ungehindert vorstoßen konnten. Aus meiner Sicht ist das vor allem ein Versagen der Linken. Bis in die 70er Jahre kontrollierte die israelische Arbeitspartei, genauer gesagt ihr Vorläufer Mapai, das ganze Land: Gewerkschaften, Krankenversicherung, Medien, Unternehmen und Regierung. Die sephardischen Einwanderer lebten derweil in Armutszentren in der Peripherie. Sie taten, was die amerikanische Arbeiterklasse jetzt auch getan haben: sie revoltierten gegen das System, angeheizt von der Demagogie der Rechten.
Das brachte 1977 in Israel erstmals den konservativen Likud unter Menachem Begin an die Macht. Warum hat die Arbeitspartei so wenig daraus gelernt?
Begin war der erste aschkenasische, also europäische Jude, der den sephardischen Juden, erklärte, „ihr seid meine Brüder“. Das hat funktioniert, so wie jetzt auch Trump Arbeiter in den USA überzeugt, dass er sich um sie kümmert. Die israelische Linke hat es total verdient, von Begin geschlagen zu werden, so sehr, wie sie die Misrahim außen vorließ und auf ihre Kultur herabsah. Dafür haben sich die linken Parteien nie wirklich entschuldigt. Sie repräsentieren die Bourgeoisie in den Städten, die sozial privilegierten Kibbuzim. Aber das ist es dann auch. Die Linken haben keine Mehrheit. Dem Likud gelang indes der populistische Schritt, sich als Heimat des „wahren Volkes“ auszugeben. Damit haben die Rechten in Israel vor über dreißig Jahren vorgemacht, was Trump nun in Amerika tut.
Begin war überzeugter Demokrat und kein Trump.
Aber dann kam Netanjahu, ein Demagoge und Populist. Er hat die demokratische Rechte liquidiert und aus dem Likud eine rassistische Siedlerpartei gemacht. Zumindest hat Netanjahu ein rassistisches Klima mit Bemerkungen wie „die Araber wählen in Schwärmen“ gefördert. In Trump erkennt er die gleiche Einstellung, eine Art „Weltanschauung“, mit der er sich wohlfühlt.
Viele Israelis finden das ganz normal. Viele sind auch dafür, die besetzten Gebiete zu behalten...
... und zu annektieren. Sie wollen Fakten schaffen. Diese Politik bringt Israel noch dazu, seine Seele zu verkaufen. Die Juden haben eine solche horrende Geschichte hinter sich und dann kommt eine Gruppe Habgieriger, die das Land mit einer messianischen Vision an sich rafft und setzt Israels Zukunft aufs Spiel.
Junge amerikanische Juden scheinen sich mit dieser israelischen Entwicklung nicht zu identifizieren.
Genau. 80 Prozent der Juden in den USA haben für Hillary Clinton gestimmt, nur die orthodoxen Juden für Trump. Viele Juden in der Diaspora haben ihre Lebensqualität, ihren Status als Teilhaber an universellen Rechten erlangt – wovon sie in früheren christlichen Gesellschaften ausgeschlossen waren. Israel verhält sich nun so, als ob es für den Kampf gegen Antisemitismus entschieden eintritt, aber auf Menschenrechte wenig gibt. Viele Juden empfinden das als scheinheilig und lehnen es ab. Diese Meinungsunterschiede könnten tiefer werden und zu einer Art Spaltung führen, wie es sie einst zwischen Katholiken und Protestanten gab.
Interview: Inge Günther