„Nicht das erste Mal, dass Regierung ohne Wahlsieger gebildet wird“

Die Berliner Politologin Julia Reuschenbach über den Wahlsieg der CDU, das belastete Verhältnis von Rot-Grün-Rot und mögliche Gründe für die Schlappen der FDP.
Frau Reuschenbach, nach der Wahl in Berlin haben SPD und Grüne angekündigt, das Angebot der CDU zu Sondierungsgesprächen anzunehmen. Was tippen Sie, wie das ausgeht?
Wir haben einen denkwürdigen Wahlabend gesehen, mit einem überragenden Wahlsieg der CDU, der sich in den Umfragen zwar angedeutet hatte, aber doch nicht in diesem Ausmaß. Insofern ist es auch angeraten, aus einer gewissen Demut gegenüber dem Ergebnis heraus, dass SPD und Grüne ernsthaft in die Gespräche mit der CDU hineingehen. Das gebietet der Respekt gegenüber dem Wahlsieger.
Wie wahrscheinlich ist es, dass die CDU Teil der Regierung wird?
Wenig. Nach dem vorläufigen amtlichen Endergebnis liegt die SPD gut 100 Stimmen vor den Grünen, also auf Platz zwei. Das macht es schlussendlich sehr wahrscheinlich, dass das von den bisherigen drei Koalitionären und auch von der Berliner Bevölkerung favorisierte rot-grün-rote Bündnis fortgesetzt wird.
Eine Koalition in Berlin ohne den Wahlsieger? - „Am Ende geht es um parlamentarische Mehrheiten“
Das bedeutet: Die Menschen in Berlin wählen und wählen – und am Ende bleibt alles, wie es ist. Ist das demokratisch?
Ja, das ist im reinsten Sinne demokratisch, denn in einer parlamentarischen Demokratie, wie wir sie haben, geht es am Ende um parlamentarische Mehrheiten. Es wäre auch nicht das erste Mal in der Geschichte der Bundesrepublik, dass eine Regierungskoalition ohne den Sieger des Wahlabends gebildet wird. Dafür gibt es auf der Bundesebene Beispiele unter Willy Brandt und Helmut Schmidt.
Es gibt sie aber auch auf Landesebene, etwa in Thüringen, wo 2014 die CDU die Wahl deutlich gewonnen hat. Am Ende stand dort ein Regierungsbündnis unter einem linken Ministerpräsidenten Bodo Ramelow. Aber ich denke schon, dass alle Parteien um den Ernst der Lage in Berlin wissen, weil das ein ganz eindeutiger Wahlsieg der CDU war. Und dass man deshalb jetzt ernsthaft in den verschiedenen Konstellationen miteinander sprechen muss.
Berlin-Wahl: Unzufriedenheit der Wählerinnen und Wähler mit den anderen Parteien ebnete CDU den Weg zu den Stimmen
Sie leben und arbeiten in Berlin. Was hat aus Ihrer Sicht zu dem Stimmenzuwachs für die CDU in dieser traditionell sozialdemokratischen Stadt geführt?
Mehrere Faktoren haben dabei eine Rolle gespielt. Mit den Krawallen zu Silvester hat der Wahlkampf ein stärker dominierendes Thema bekommen. Mit der Debatte über Innere Sicherheit und zum Teil auch über Integrationspolitik. Da hat die CDU sich sehr stark positioniert, solche Themen sind auch geeignet zur Polarisierung, um Unterschiede zwischen Parteien stärker deutlich zu machen. Das ist der CDU gelungen.

Der entscheidende Faktor ist aber, dass die Menschen der CDU ihre Stimme gegeben haben aus Unzufriedenheit über die anderen Parteien: plus 17 Prozentpunkte bei jenen, die sagen, ich habe der CDU meine Stimme gegeben aus Unmut über die anderen, und minus 13 Prozentpunkte bei denen, die sagen, ich habe die Stimme gegeben, weil die Partei mich überzeugt. Die CDU hat vor allem profitiert von der großen Unzufriedenheit der Berlinerinnen und Berliner mit den bisherigen Regierungsparteien.
Was folgt daraus für Rot-Grün-Rot, falls das Dreierbündnis fortgesetzt werden sollte?
Man muss aushalten können, dass Wählerinnen und Wähler widersprüchlich sind. Zum einen waren sie extrem unzufrieden mit dieser Koalition. Wenn man aber jetzt fragt „Welches Bündnis soll in Berlin arbeiten?“, kommt das bisherige immer noch auf die größte Zustimmung.
Für Berlin würde es bedeuten, dass die Regierungskoalition Dinge anders machen muss. Sie muss weg von innerkoalitionären Querelen, wie wir sie gerade in den letzten Wochen erlebt haben zwischen Grünen und der SPD. Aber man muss auch hin zu konkreten Antworten auf die großen, drängenden Fragen, etwa beim Thema Wohnen und bezahlbare Mieten. Man hat den Volksentscheid nicht umgesetzt, stattdessen eine Kommission gebildet, aber nicht die Antworten und das politische Handeln gefunden, die den Menschen zeigen würden, dass die Koalition die Dinge anpackt.
Nach der Berlin-Wahl: Giffey und Jarasch müssen konziser und konstruktiver zusammenarbeiten
Wenn das Dreierbündnis mit dem bekannten Personal – Frau Giffey und Frau Jarasch – fortgesetzt wird, ist zu befürchten, dass bestimmte Differenzen weiter ausgetragen werden.
Die Personen werden über Nacht keine anderen werden. Um es salopp zu formulieren: Sie müssen sich zusammenreißen, um künftig konziser, konkreter und konstruktiver miteinander zu arbeiten. Aber natürlich ist die Gefahr groß, dass die großen Probleme – allen voran Mobilität und Verkehr sowie Wohnen und Mieten – schwierige Themen in der Koalition bleiben.
Wir haben jetzt noch dreieinhalb Jahre der Legislatur vor uns. Der alte und womöglich neue Senat läuft Gefahr, wenn er am Ende dieser Zeit nicht substanziell politische Erfolge vorweisen kann, dafür dann noch mehr abgestraft zu werden, als das am Sonntag der Fall war.
Zur Person
Julia Reuschenbach forscht seit 2022 am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin. Ihre Schwerpunkte sind Parteien und Wahlen, politische Kultur und politische Kommunikation.
Berlin-Wahl: Linke feierte zuletzt „konkrete politische Erfolge“ – und erntet dafür 12,2 Prozent der Stimmen
Die Linke hat sich zweistellig konsolidiert, während sie im Bund und in anderen Ländern abgestürzt ist. Was macht die Linke in Berlin besser?
Traditionell ist die Linke in der Berliner Stadtgesellschaft verankert. Das ist wichtig, weil sie dort eine viel größere und gefestigtere Basis hat als in vielen Bundesländern. Mit den Senatorinnen und Senatoren, welche die Linke in Berlin gestellt hat, konnte die Partei zeigen, dass sie in der Lage ist, konstruktive Politik zu machen.
Die Sozialsenatorin Katja Kipping hat die Unterbringung vieler Hunderttausender ukrainischer Geflüchteter umgesetzt. Man hat ein Wärmenetz für Wohnungslose geschaffen, man hat mit der Kulturkarte für Jugendliche und vielen Pandemiehilfen die Kulturbranche, die in Berlin sehr groß ist, gut durch die Krise gebracht. Das sind konkrete politische Erfolge, die die Linken sich zuschreiben können. Das ist der große Unterschied zur Wirkung der Partei im Bund.
Was müsste die Linke im Bund ändern?
Die Linke müsste mal darüber nachdenken, und zwar dringend, diese Menschen, die exekutiv Verantwortung tragen in den Ländern wie Berlin, Bremen und Thüringen, auf der Bundesebene der Partei deutlich stärker sichtbar zu machen. Sie sind die Gesichter dafür, dass mit den Linken auch Politik und Koalitionen geräuscharm möglich sind. Die Linke macht sich das Handeln und die Erfolge dieser Akteurinnen und Akteure zu wenig zu eigen.
Berlin-Wahl: Die Personalunion von Finanzminister und Parteichef lässt der FDP zu wenig Gestaltungsspielraum als Partei
Das ist das Gegenteil dessen, was die FDP erlebt, oder? Da bezahlt die Partei auf Länderebene dafür, was auf Bundesebene schiefläuft.
Nicht nur, die Situation für die Liberalen ist sehr schwierig. Der Trend zeigt in den letzten Landtagswahlen für die FDP nach unten. Ich bin gespannt, ob die Partei die Diskussion führen wird, ob die Konstellation, dass Christian Lindner als Finanzminister zugleich Parteivorsitzender ist, so günstig ist für die Partei. Sie hat dadurch natürlich nicht die Beinfreiheit für einen Parteichef, die sie eigentlich bräuchte, wenn sie sich weiterhin als Partei profilieren und zugleich konstruktiv mitregieren will im Bund.
Und was hat die FDP auf Landesebene in Berlin falsch gemacht?
Beim Berliner Ergebnis stechen zwei Zahlen hervor: Die Partei hat sehr stark verloren ins Nichtwählerlager. Sie hat offensichtlich ihre eigenen Anhänger nicht mobilisieren können und ihre eigenen Anhänger nicht an Briefe und Urne bekommen. Das Zweite sind die großen Verluste an die CDU. Sie legen die Vermutung nahe, dass viele nach den über lange Zeit sehr knappen Umfragen dann im bürgerlichen Lager ihre Stimme der CDU gegeben haben statt der FDP, um vorne im Dreikampf von SPD, Grünen und CDU ein Signal zu senden. Zumal es unwahrscheinlich erschien, dass die FDP an einer künftigen Regierung beteiligt sein würde.
AfD hat von der großen Unzufriedenheit der Bürgerinnen und Bürger bei der Berlin-Wahl nicht profitieren können
Die AfD hat mit 9,1 Prozent ihr selbstgestecktes Ziel eines zweistelligen Wahlergebnisses nicht erreicht. Dabei hätte man annehmen können, dass sie aus den Silvesterkrawallen stärker politischen Profit schlägt. Dringt die AfD in Berlin nicht durch?
So einfach ist es nicht, denn wenn das so wäre, läge sie nicht bei neun Prozent. Als die Entscheidung fiel, dass in Berlin die Wahl wiederholt werden muss, war die öffentliche Debatte bei den Themen „Wutwinter“ und „Heißer Herbst“. Und bei der großen Sorge, dass die Berlin-Wahl im Februar der große Stimmungstest werden würde für den Umgang Deutschlands mit der Energiepreiskrise, mit dem Krieg Russlands gegen die Ukraine. Und dass sich das übersetzen könnte in einen großen Zuwachs an Stimmen für die AfD.
Das ist nicht eingetreten. Die AfD hat nicht profitieren können von dieser Situation und sie hat auch nicht profitieren können von der Unzufriedenheit der Berlinerinnen und Berliner mit ihrem bisherigen Senat. Diese Stimmen sind alle in die wählbare Alternative gegangen – in die CDU.
Die Wahlbeteiligung war mit 63 Prozent nicht so niedrig wie viele befürchtet hatten.
Für die Demokratie war der Wahltag ein besserer als viele angenommen hatten. Wir sind im Vorfeld davon ausgegangen, dass die Tatsache, dass die Wahl von 2021 wiederholt werden muss, womöglich Vertrauen gekostet hat und die Wählerinnen und Wähler das übersetzen in eine Nichtbeteiligung. Das hat so nicht stattgefunden.
Im Gegenteil: Wir sehen im Vergleich zu früheren Abgeordnetenhauswahlen, die alleine, also ohne parallele Bundestagswahl stattgefunden haben, dass sich die Wahlbeteiligung solide in das Mittelfeld einreiht. (Interview: Tatjana Coerschulte)