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Gefangen im Konflikt: Experte gibt düstere Prognose ab

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Von: Peter Rutkowski

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Im Kampf um Bergkarabach ist kein Ende in Sicht. Konfliktforscher Hans-Joachim Spanger spricht über wirtschaftliche und gesellschaftliche Unterschiede zwischen Armenien und Aserbaidschan, historische Verletzungen und weitere Hindernisse für Frieden.

Herr Spanger, kurz nach dem Beginn der Gefechte in Bergkarabach machte die FR mit der Schlagzeile „Kaukasisches Martyrium“ auf. Eine Schlagzeile soll Interesse wecken, die Möglichkeiten, darin Komplexität zu konzentrieren, sind also begrenzt. Eingedenk dessen: Würden Sie die Formulierung so stützen?

Die Formulierung finde ich etwas sehr dramatisierend. Das Martyrium hatte Anfang der 1990er Jahre stattgefunden, als es einen großflächigen Krieg in der Region gab, mit 30 000 bis 50 000 Toten und nahezu einer Million Vertriebenen auf beiden Seiten. Da sind wir heute weit von entfernt. Wir erleben jetzt vermutlich den Versuch Aserbaidschans, seine lange angedrohten militärischen Aktionen wahrzumachen. Ob es sich dabei tatsächlich um eine echte Offensive zur Rückeroberung Bergkarabachs handelt, wissen wir nicht, denn kleine Scharmützel hat es immer wieder gegeben und 2016 bereits einen Viertagekrieg, den Aserbaidschans als relativ erfolgreich ansah.

Ignoranz des Konflikts zwischen Armenien und Aserbaidschan

Bei der Wahl des Wortes „Martyrium“ waren wir angesichts der Faktenlage – und je nachdem, wie weit man in der Historie des Konflikts zurückgeht – zu der Überzeugung gekommen, dass sich dort eine fürchterliche Kombination aus Sinnlosigkeit und Ausweglosigkeit präsentiert. Und noch dazu ein Konflikt, der vielen Menschen hier sehr weit entfernt scheint.

Nicht nur Menschen hier. Den Konflikt haben letztlich alle ignoriert über die Jahrzehnte. Man war froh, dass da weitestgehend Ruhe war – anders als etwa im Donbass. Es gibt ja nicht einmal eine vernünftige OSZE-Beobachtermission: Zweimal pro Monat fahren maximal 20 Leute an die Demarkationslinie.

In Ihrem Buch zu dem Konflikt breiten Sie und ihre Co-Autoren ein Spektrum an möglichen Friedensprozessen für „ethno-territoriale Konflikte“ aus. Viel wird auf beiderseitige Kompromissbereitschaft gegeben. Von so etwas dürfen wir im Moment wohl nicht einmal träumen. Überhaupt: Reden wir nur von zwei Seiten, oder spielen Kräfte in Bergkarabach selbst auch eine Rolle?

Das ist relativ schwer zu beurteilen. In der Anfangsphase der Verhandlungen von Minsk bis 1997 war Bergkarabach als Verhandlungspartei durchaus anerkannt. Dann haben die Aserbaidschaner sich geweigert, mit denen direkt weiterzusprechen. Interessanterweise übernahm aber beim Sturz von Präsident Ter-Petrosjan vor 22 Jahren die sogenannte Karabach-Fraktion auch in Eriwan das Kommando, mit ihren beiden Autokraten Kotscharjan und dann Sargsjan. Da war dann letztlich eine einheitliche Front am Verhandlungstisch. Aber es ist sicherlich hilfreich – und das schlagen wir in unserem Buch auch vor –, die Bergkarabach-Armenier wieder direkt in Verhandlungen einzubeziehen; es geht ja schließlich um deren Territorium. Dass Aserbaidschan seine Haltung entsprechend lockert, hat Armeniens Premier Nikol Paschinjan vor einigen Monaten auch explizit gefordert. Allerdings: Wenn man weiß, dass die Gegenseite nicht dazu bereit ist, stellt sich natürlich auch die Frage, ob die Forderung etwas blockieren oder etwas voranbringen sollte? Und das Dilemma der neuen demokratisch gewählten Führung in Armenien ist, dass die nationale Sicherheit und der Bergkarabach-Konflikt so etwas wie eine offene Flanke darstellen gegenüber den Amtsvorgängern von der Karabach-Fraktion. Paschinjan kann sich da nur extrem vorsichtig bewegen.

Die Rolle des Iran im Krieg um Bergkarabach

Angesichts dieser Gemengelage vor Ort blickt man verständlicherweise eher zu den beiden Mächten im Hintergrund, Russland und Türkei. Russland scheint angesichts seiner vielen verschiedenen Fronten wenig Interesse an einem offenen Konflikt zu haben. Die Türkei kann Bergkarabach nutzen, um von ihren eklatanten inneren Problemen abzulenken. In Ihrem Buch benennen Sie noch einen weiteren Player: den Iran.

Ich würde die Rolle des Iran nicht überbewerten. Der Iran hat einen relativ schmalen Streifen gemeinsamer Grenze mit Armenien. Und für Armenien gibt es eben nur zwei offene Grenzen, die zum Iran und die zu Georgien. Der schmale Streifen zum Iran ermöglicht einen relativ lebhaften Handel und Beziehungen – gewissermaßen eine Hintertür für Armenien. Die Iraner spielen dieses Spiel mit, während ihre Beziehungen zu Baku unterkühlt sind. Dabei dürfte auch eine Rolle spielen, dass Aserbaidschan recht enge militärische Beziehungen zu Israel unterhält.

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In der Stadt Terter in Aserbaidschan suchen Anwohner Schutz vor Beschuss. © STRINGER/EPA-EFE/Shutterstock

Der Unterschied zwischen Armenien und Aserbaidschan

Da Sie die Wirtschaftsbeziehungen erwähnen: Armenien wird vornehmlich als agrarisches Land angesehen und Aserbaidschan, respektive Baku steht seit mehr als einem Jahrhundert für Erdöl. Beide Länder sind weit entfernt von einer diversifizierten modernen Ökonomie. Und Korruption hüben wie drüben tut auch nichts dazu.

Das stimmt. Aber bei Armenien darf man eines nicht unterschätzen: Das ist die Diaspora. Ein Großteil der Armenier lebt nicht im Land, sondern außerhalb: in Russland, den USA und Frankreich. Es hat schon zu Sowjetzeiten sehr intensive Beziehungen zwischen der Diaspora und dem armenischen Kernland gegeben, das davon sehr profitiert. Das hilft im übrigen auch Bergkarabach, wo etwa Investitionen und regelmäßige Spenden des US- Milliardärs Kirk Kerkorjan zu nennen wären. Das durchbricht auch ein wenig die Isolation, unter der Armenien zweifelsohne leidet. Durch die Revolution vor zwei Jahren sind in Eriwan zumindest die politischen Bedingungen geschaffen worden, um das Land nachhaltiger zu modernisieren. In Aserbaidschan gibt es nichts davon. Das ist eine klassische Rohstoff-Autokratie, und daran wird – befürchte ich – sich auch so schnell nichts ändern. Aber es ist natürlich ein Staat, der angesichts der Erdöl- und Erdgaserlöse ziemlich reich und ziemlich selbstbewusst geworden ist. Der kann, wenn man dort über den Konflikt diskutiert, praktisch vor Kraft nicht laufen.

Zur Person

Hans-Joachim Spanger wirkt bei der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) in Frankfurt als Experte für innerstaatliche Konflikte. Bei der HSFK ist er in unterschiedlichen Funktionen seit 1980 tätig. Zwischenzeitlich forschte er auch am renommierten Londoner International Institute for Strategic Studies. Dieses Jahr brachte er zusammen mit Aser Babajew und Bruno Schoch ein Buch zum Konflikt um Bergkarabach heraus.

Er hat sich zur eigenen Bewegungslosigkeit verdammt? Oder kann nur immer stur vorwärts marschieren?

Das ist eine gewisse Tragik – auch eine Tragik, was die Modernisierung des Landes angeht. Wenn man Baku, eine ziemlich glitzernde Stadt, verlässt und aufs Land fährt, trifft einen dort die blanke Trostlosigkeit; dort wurde alles vollständig vernachlässigt. Das ist eine erhebliche Bürde, umso mehr, als die Öl-Einnahmen zurückgehen und die Gas-Einnahmen das nur unzulänglich kompensieren können. Nach Prognosen wird der ganze Boom in 20, 25 Jahren auch vorbei sein. Es wird in Baku viel von Diversifikation der Wirtschaft geredet, etwa durch Förderung des Tourismus, aber es geschieht relativ wenig. Die Perversion solcher festgefügter ethno-territorialer Konflikte wie um Bergkarabach, wo es immer nur essenzialistische Debatten gibt, ist, dass es für beide Seiten eine extreme Befreiung wäre, wenn der Konflikt beigelegt werden könnte.

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Konflikt um Bergkarabach © FR

Im Krieg zwischen Aserbaidschan und Armenien gibt es schwer zu überwindende Barrieren

Wenn alle vom Ende des Konflikts nur profitieren würden, warum wird der jetzt gerade wieder angeheizt?

Das ist eben dieser Essenzialismus. Es gibt in solchen Konflikten unglaublich schwer zu überwindende Barrieren für einen rationalen Interessensdiskurs. Es geht um Identität, es geht um das Ganze – und darüber kann man nicht verhandeln. Man blockiert einander mit Argumenten, die weit in die Geschichte zurückgreifen, die aus Gerechtigkeitsdiskursen abgeleitet werden, mit wechselseitigen Vorwürfen der Verantwortung für historische Massaker, mit der Überzeugung, dass einem gleich der ganze Arm abgerissen wird, wenn man nur den kleinen Finger reicht, mit der schieren Dämonisierung des Gegenübers. Und das andere Dilemma ist, dass die Besetzung oder – in armenischer Sichtweise – Befreiung Bergkarabachs sowie die zweifelsfreie Besetzung des umliegenden aserbaidschanischen Territoriums ganz klar völkerrechtswidrig sind. In Verhandlungen kann Armenien gemessen am Status quo also nur verlieren. Da andererseits Aserbaidschan partout nicht auf Bergkarabach verzichten will, fehlen auch von dort konstruktive Ansätze, um Schritt für Schritt zu einer Lösung zu kommen. Der jüngste Versuch dazu war der – inoffizielle – Lawrow-Plan von 2015/16, der den Armeniern auferlegte, aus zwei, drei der besetzten Bezirke abzuziehen, gefolgt von einer Gewaltverzichtserklärung der Aserbaidschaner, alles dann abgesichert mit internationalen Truppen.

Um den Krieg um Bergkarabach zu überwinden, brauche man eine Gemeinschaft

Zu Anfang Ihres Buches definieren Sie unterschiedliche Vorstellungen von Staat und Nation. Sie erwähnen besonders die quasi emotionale Staatenbildung, ein geradezu poetisches Narrativ einer Nation. Einer Identität, eines Ganzen. Nicht solche auf Aufklärung und Prinzipien der Vernunft gebaute Staatsexperimente wie im Falle Frankreichs und den USA.

Ja, klar. Blut, Sprache, Identität, Gemeinschaft sind alles imaginierte Gemeinsamkeiten. Es geht nicht um Gesellschaft, es geht um Gemeinschaft. Der jugoslawische Bürgerkrieg gibt eine ganze Menge an Hinweisen, wo solche Imaginationen hinführen können. Er zeigt aber auch, wie vielleicht eine Lösung aussehen könnte. Wir haben das Ende des Bosnienkrieges über die Verhandlungen in Dayton erlebt: Das war ein Konklave, das die Amerikaner erzwungen hatten. Das hat dazu geführt, dass bis heute selbst ohne ausländische Truppen der Frieden hält, wenn auch um den Preis eines relativ dysfunktionalen Staates Bosnien-Herzegowina. Im Kaukasus können die Akteure das vermutlich aus eigener Kraft nicht.

Wer dann?

Die Russen. Die sind die Einzigen, die das leisten könnten. Sind sie dazu aber willens? Ich befürchte: nein. Manche schätzen, dass Moskau ganz zufrieden mit der jetzigen Situation ist, denn die stellt sicher, dass keine andere externe Macht dort eine Rolle spielt. Armenien wie Aserbaidschan sind auf die eine oder andere Weise von Russland abhängig. Ohne den Konflikt wäre das vorbei. (Peter Rutkowski)

Rubriklistenbild: © Tofik Babayev/dpa

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