Annalena Baerbock: Die Grünen im Grauen des Wahlkampfs

Die Kanzlerkandidatin der Grünen ist als Heilsbringerin abgestürzt – und mit ihr die Umfragewerte. Wie geht es einem Basisgrünen damit? Autorin Bascha Mika hat in eine leidende grüne Seele blicken dürfen.
Berlin - Sie sind glücklich? Wie schön für Sie. Ich kann das von mir nicht sagen, denn mir zerreißt es gerade das Herz. Ich bin Grüner, und wenn ich mir anschaue, was bei uns los ist ... Dabei müsste die jetzige Situation doch der Paukenschlag für meine Partei sein. War es jemals so offensichtlich, wie wichtig das Thema Klimaschutz ist?
Wir sehen die schrecklichen Überschwemmungen vor allem in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz. Ein furchtbares Beispiel, wie sich das Klima verändert und zu kippen droht. Die Grünen haben zwar die Antwort darauf, aber die wird nicht gehört, weil sie von menschengemachtem Mist übertönt wird. Gleichzeitig richtet sich die politische Konkurrenz in einem „weiter so“ ein. Das macht mich echt wütend.
Doch vielleicht sollte ich mich erst einmal vorstellen. Für Sie heiße ich Stephan, ich komme aus Berlin, bin Politikwissenschaftler und habe einige Zeit für die Grünen in der Bundestagsfraktion gearbeitet. Eingetreten bin ich in die Partei vor fast zwanzig Jahren, damals, als Gerhard Schröder und Joschka Fischer um eine zweite Amtszeit für das rot-grüne Projekt warben.
Vor Rot-Grün kannte ich ja nur die Kohl-Ära - Annalena Baerbock war weit weg
Ich bin ein bisschen Überzeugungstäter und Idealist, deshalb wollte ich nicht, dass diese Regierung nach der ersten Legislatur abdanken muss. Eines ihrer zentralen Projekte war die ökologische Steuerreform. Mich hat fasziniert, dass ordnungspolitisch in die Klimasteuerung eingegriffen und gleichzeitig mit wirtschaftlichen Instrumenten gearbeitet wurde. Das fand ich klug und geschickt.
Vor Rot-Grün kannte ich ja nur die Kohl-Ära, die endlos lange Zeit politischen Stillstands. So etwas wollte ich nie wieder erleben. 2002 war ich Anfang zwanzig und noch im Studium. Als ich die Wahlkämpfer Fischer und Schröder vor dem Brandenburger Tor erlebt habe – die hatten da einen richtig guten Auftritt – war klar: das Ausfüllen des Mitgliedschaftsformulars war die richtige Entscheidung. Auch, weil mir die sozialen und gesellschaftlichen Themen immer wichtig waren, gegen die die Kohl’schen Kerle ständig anstänkerten. Damals gab’s in der CDU noch solche Exemplare wie Manfred Kanther, deren Motto war: Wir sind katholisch, wir sind weiß und wir sind Männer.
Das ist Annalena Baerbocks Ego-Ding und völlig unnötig
Doch zurück zum Grauen von heute. Wirklich schlimm ist, dass wir immer noch über die persönlichen Verfehlungen von Frau Baerbock reden. Die kann man unterschiedlich bewerten, aber sicher, in der Summe ist es ein Riesenproblem. Und über das Krisenmanagement der Partei lässt sich trefflich streiten.
Vielleicht ist die ganze Geschichte ein Zeichen für die Normalisierung der Partei – weg von idealistischen Dilletant:innen hin zu einer gewissen Politikerkaste, die es auch bei den Grünen seit Jahrzehnten gibt. Wir wollten andere Wege beschreiten, warum ist es dann plötzlich so wichtig, ein völlig belangloses, zusammengeschustertes Buch zu schreiben? Die Welt braucht das nicht. Egal, ob es nun bei Angela Merkel „Mein Weg“ heißt oder Annalena Baerbock von ihren Lieblingsautoren abschreibt – das trägt doch nichts bei! Auch nicht zum Wahlkampf. Das ist Annalenas Ego-Ding und völlig unnötig. Die jetzige Situation der Grünen gleicht einem schlecht geschossenen Elfmeter: Man hatte den Ball auf dem Punkt und hätte ihn nur ins Tor bringen müssen.
Annalena Baerbock: Man muss sich hier einfach dreckig machen
Die Crux ist – es gibt keinen guten Weg da raus, es gibt keine Win-Win-Situation. Man muss sich hier einfach dreckig machen und sagen: Tut uns leid, wir haben einen großen Bock geschossen. Besser noch, Annalena sagt es selbst – statt sich immer nur halbherzig zu entschuldigen. Aber das tut sie nicht und es ist auch nicht der Plan der Parteispitze. Deshalb kommen wir nicht wieder auf die Füße und sind wie gelähmt. Vielleicht braucht es jetzt ein echtes Opfer...
Wenn das noch drei Wochen so weitergeht, finden wir uns in den Umfragewerten bei 13 Prozent wieder. Das wäre wirklich tragisch, wir kennen das doch schon. Erst stehen wir prima da und am Ende fällt das Ganze wie ein Soufflé zusammen. Das wäre eine mehrfache #Katastrophe. Wenn ich eine sichere Strategie dagegen hätte, würde ich sie auf all meinen sozialen Medien verbreiten. Aber haben wir dafür nicht eigentlich eine Parteiführung?
Doch die ist offenbar völlig ratlos und übt sich in Funktionärsgequatsche. Das mit anzuhören, ist reiner Masochismus. Dieses sich Winden und Drehen erwarte ich von anderen Parteien. Von meiner erwarte ich, dass sie sagt: Sorry! Und dann müssen wir uns den Mund abwischen und weitermachen. Zumindest unsere Stammwähler würden das verstehen und goutieren.
Ich selbst war eigentlich ein Habeck-Jünger, kein Annalena Baerbock-Anhänger
Ich glaube, die Parteispitze hat im Vorfeld zu sicher gespielt, war so stolz auf ihre Arbeit und hat es zunächst ja auch gut gemacht. Eine Frau aufgestellt, ein Wahlprogramm hinbekommen, das bei weiten Teilen der Bevölkerung anschlussfähig ist. Und nun funktioniert das alles nicht und man steht auf einem riesigen Scherbenhaufen.
Da will doch jeder wissen, ob es kein Team gab, das Annalenas Umfeld früh genug gecheckt und nach Stolpersteinen gesucht hat. Das ist eine der großen Fragen, die man intern stellen muss. Wenn es keiner gemacht hat, wäre es ein Riesendrama. Und wenn es jemand gemacht und nicht gewarnt hat, wäre es ebenfalls ein Drama. Wir wissen nicht erst aus Serien wie „The West Wing“, dass das Durchleuchten des eigenen Kandidaten quasi der erste Schritt zur Kandidatur ist. Die Amerikaner machen es vor. Sie sind in dieser Hinsicht vielleicht hysterischer und ein bisschen schrecklicher als wir, aber auch professioneller.
Ob das mit Annalena so eine kluge Idee war? Spannende Frage. Ich selbst war eigentlich ein Habeck-Jünger und habe Robert als meinen Kandidaten gesehen. Wahrscheinlich spielte bei mir das Argument der Regierungserfahrung eine Rolle. Nichtsdestoweniger habe ich mich gefreut, dass es dann eine Frau wurde. Mehr als alle anderen müssen die Grünen das Gleichstellungsversprechen auch in ihren Personalentscheidungen einlösen.
Die innerparteilichen Strömungen gibt es ja nach wie vor - trotz Annalena Baerbock
Am Ende des Tages war ich mit der Wahl aber sehr zufrieden. Na gut, dann soll sie’s machen und prima. Ich glaube, dass sich alle Grünen hinter sie stellen konnten – selbst wenn sie vorher dachten wie ich. Annalena ist jung, dynamisch, ökologisch, trotzdem wirtschaftsnah und innenpolitisch gewieft. Sie kann die unterschiedlichen Parteilinien zusammenführen. Bei dieser Mischung konnte jeder irgendwo andocken und einen Teil seiner politischen Träume wiederfinden.
Das ist wichtig, denn die innerparteilichen Strömungen gibt es ja nach wie vor. Und bei unserer derzeitigen Schwäche habe ich Angst, dass alte Grabenkämpfe um vermeintliche Grundsatzfragen wieder aufleben. Da sind manch‘ alte Rechnungen zu begleichen, manche Unzufriedenen könnten sich wieder zu Wort melden. Das wäre im Wahlkampf alles andere als hilfreich, dann wären wir wieder der alte Hühnerhaufen.

Posthum betrachtet war das alles ein großer Fehler. Ein bisschen wie der Speck an der Angel, dem man hinterhergelaufen ist. Das sah alles so schön aus und so verheißungsvoll ... Ich bin ja eher der skeptische Typ und habe nie wirklich daran geglaubt, dass es eine realistische grüne Option auf die Kanzlerschaft gibt. Doch auch ich habe gedacht: Ach, guck mal, wenn das funktioniert, das wäre ja großartig!
Auf die Kanzlerfrage hätten wir und Annalena Baerbock einfach pfeifen sollen
Wahrscheinlich war es prinzipiell falsch, dass wir von der guten und geübten Praxis einer Doppelspitze abgekommen sind und eine Kandidatin auf den Sockel gestellt haben. Auf die Kanzlerfrage hätten wir einfach pfeifen sollen. Dann wären wir heute nicht so in der Bredouille, weil wir eine zweite starke Figur gehabt hätten. Ich erinnere mich an Guido Westerwelle, dem ist seine damalige Großmäuligkeit auch nicht bekommen. Und was bei der FDP schon nicht gut war, bekommt dann den Grünen noch weniger.
Die Wahl Habeck oder Baerbock wurde im Hinterzimmer ausgekungelt, und das Ergebnis müsse wir gerade aushalten. Die Nachmeldung von Einkünften ist natürlich saublöd, aber eigentlich sind Annalenas Verfehlungen relativ klein. Allerdings nicht in der Summe. Und die Springer-Presse freut sich, dass es so leicht ist, die Grünen zu unterminieren. Das ist der Punkt, der mich am meisten ärgert – dass wir es dem politischen Mitbewerber gerade viel zu leicht machen.
War Annalena zu selbstsicher, zu arrogant, zu ehrgeizig? Oder was sonst hat zu diesen Fehlern geführt? Ich glaube, es war der Ehrgeiz, ihre sehr starke Ambition. Sie wollte die Pole Position. Angestachelt durch den großen Robert Habeck neben sich, der schon mal Minister war und auch mehr Lebenserfahrung hat.
Hat die böse Freude, Annalena Baerbock vom Sockel zu stürzen, damit zu tun, dass sie eine Frau ist?
Tragisch ist, dass sie in diesem Moment offenbar zu viel wollte. Aber der Gerechtigkeit halber muss man auch sagen: Wir sind ihr ja alle gefolgt und haben sie auf dem Parteitag gewählt. Und auch die Umfragen kamen nicht irgendwo her, es gab zweifellos eine große Begeisterung in der Öffentlichkeit.
Was mich total beschäftigt: Hat die böse Freude, sie vom Sockel zu stürzen, damit zu tun, dass sie eine Frau ist? Zwei mögliche Antworten. Die eine: Sorry, jeder wird auseinandergenommen, so funktioniert eben unsere Medienrepublik. Ein Markus Lanz wird penetrant weiterfragen, egal wer vor ihm sitzt. Die andere: Vielleicht hängt es doch damit zusammen, dass sie als Frau den Mut gehabt hat, anzutreten und zu sagen, ich traue mir das zu. Ich will das! Und ich kann das auch. Jetzt folgt mir!
Niemanden sieht man so gerne scheitern wie den, der sich etwas traut und dann auf dem Glatteis ausrutscht. Es ist schon auffallend, wie arg die Geschichte von der rechten Presse gespielt wird. Offenkundig macht es richtig Spaß, Menschen niederzuschreiben, die zu verheißungsvollen Figuren aufgestiegen sind.
Es wird keine Erneuerung mit Schwarz-Gelb geben
Ich fand es sehr lustig, dass die „taz“ vorgeschlagen hat, nun Robert Habeck zum grünen Kanzlerkandidaten auszurufen. Ist sicher kein guter Rat. Erstens müsste Annalena selbst entscheiden, dass sie nicht mehr will. Kein Parteigrande wie Bütikofer oder Trittin könnte ja sagen: Du Annalena, du musst jetzt hier raus, das funktioniert nicht mehr. Und zweitens glaube ich nicht, dass Robert es noch rumreißen könnte. Er wäre nur der Notnagel.

Die Stimmung in der Partei ist diffus und in den Bundesländern auch unterschiedlich. Aber das Gefühl, dass die Leute frustriert sind und sich einen Befreiungsschlag wünschen, ist durchaus da. Wir müssen nach der Bundestagswahl 2021 unbedingt mitregieren können. Das wünsche ich mir, denn das braucht das Land. Es wird keine Erneuerung mit Schwarz-Gelb geben und wenn, dann nur in die falsche Richtung.
Am Ende des Tages wird uns nur Ehrlichkeit, weniger Wurschtelei und Drumrumreden aus der jetzigen Situation helfen. Wir müssen wieder in die Vorhand kommen, selbstbewusst sein und starke inhaltliche politische Zeichen setzen. Würde es helfen, wenn Annalena mit einer Pinguin-Familie auf dem Arm und dem trockenen Aralsee im Rücken mit Wladimir Putin über Menschenrechte diskutiert? (Bascha Mika)