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Schikanen gegen geflüchtete Familien als Strategie „Rechtslage in Deutschland zerreißt Familien“

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Von: Ursula Rüssmann

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Junge Geflüchtete treffen in der Landesaufnahmebehörde Bramsche-Hesepe in Niedersachsen ein.
Junge Geflüchtete treffen am „Ankunftszentrum“ der Landesaufnahmebehörde in Bramsche in Niedersachsen ein. © Imago Images

Deutschland mutet Geflüchteten oft viele Jahre der Trennung von ihren Familien zu. Viele Minderjährige leiden. Fachleute sehen ein zynisches politisches Kalkül.

Berlin – Vor ein paar Tagen war ein Freudentag für Rohat T.. Denn da hat er seine Eltern wiedergesehen, zum ersten Mal seit rund vier Jahren. Rohat (Namen der Flüchtlingsfamilien geändert) ist 14 Jahre alt. Er war kaum älter als zehn, als er aus Al-Malikia im kurdischen Nordosten Syriens geflohen ist. Die desolate Bildungssituation und Angst vor Rekrutierung durch kurdische Milizen trieben die Familie dazu. Inzwischen lebt Rohat als unbegleiteter Minderjähriger mit subsidiärem Schutzstatus in einer süddeutschen Kleinstadt. Bei einem Onkel, aber ohne Mutter, Vater und Schwestern.

„Die Zeit hier war bisher schwer für ihn, er hat die Eltern und Schwestern so vermisst“, sagt sein Onkel Sidar R. Jetzt endlich, nach Monaten voller Anträge, Warterei und Behördengänge, durften Rohats Eltern nachkommen. Aber um einen hohen Preis: Die drei kleinen Geschwister dürfen nicht mit. Antrag abgelehnt, weil der 14-Jährige nicht genug Wohnraum und Unterhalt garantieren könne. Denn nur Eltern gewährt Deutschland ein sicheres Recht auf Nachzug zu minderjährigen Geflüchteten, nicht deren Geschwistern.

Brutale Folgen für Familien von Geflüchteten

Die brutale Folge beschreibt Karim Alwasiti, Experte für Familienzusammenführung beim Niedersächsischen Flüchtlingsrat und der Organisation Pro Asyl, welche die Verschärfung der EU-Migrationspolitik kritisierte: „Die Rechtslage in Deutschland zerreißt Familien.“ So auch bei der elfjährigen Jesidin Hana A., die mit einer älteren Schwester nach Deutschland geflohen ist und deren Fall die Kinderrechtsorganisation Terre des Hommes (TDH) Deutschland in ihrer aktuellen Kampagne vorstellt. Der Rest von Hanas Familie blieb im Nordirak, weil eine weitere Schwester herzkrank ist und eine Flucht nicht überleben würde. Auch in diesem Fall wurde nur den Eltern der Nachzug bewilligt – die kranke Schwester soll zurückbleiben. „Für die Eltern, aber auch für Hana und ihre Schwester ein kaum auszuhaltender Zustand“, kommentiert TDH.

Auch Rohats Eltern Meryem und Adil sahen sich im Januar vor eine schreckliche Wahl gestellt: das mühsam ergatterte Visum nutzen und zu Rohat reisen, aber die Töchter zurücklassen – oder in Al-Malikia bleiben? „Sie hatten ja keine Wahl“, sagt Sidar R. wütend: „Wenn sie nicht gekommen wären, hätten sie Rohat vielleicht nie wiedergesehen.“ Denn ihr Visum wäre dann verfallen. Jetzt bleibe ihnen immerhin noch die reelle Chance, dass sie, wenn ihr Antrag auf Familienasyl hier anerkannt ist, die Mädchen nachholen könnten. Dieser Prozess aber, weiß Berater Alwasiti, dauert mindestens noch ein Jahr, wenn nicht länger: „So wird absichtlich Trennungsleid verlängert.“

Und die Familie muss erneut große Mühen bewältigen. So müssen die fünf-, zehn- und 13-jährigen Mädchen mit den Großeltern, bei denen sie unterkommen konnten, noch mal zur deutschen Botschaft in Beirut reisen. Die ist für die Visa zuständig, weil es in Syrien derzeit keine deutsche Vertretung gibt. 14 Stunden dauert der Weg in die libanesische Hauptstadt, diverse Checkpoints müssen passiert werden. Womöglich werden auch noch neue Dokumente benötigt, weil sie in der Zwischenzeit ungültig geworden sind.

Terre des Hommes kritisiert deutsche Migrationspolitik

Laut Sophia Eckert, TDH-Referentin für Flucht und Migration, dauert es so nicht selten noch mal zwei bis drei Jahre, bis auch die Geschwister kommen dürfen. Allein die Wartezeiten bei den deutschen Botschaften lägen mitunter zwischen 12 und 24 Monaten. Deshalb reist manchmal nur ein Elternteil vor, einer bleibt zurück bei den Geschwistern. Die lange Trennung belaste nicht zuletzt das Familiengefüge stark, zurückbleibende Frauen etwa in Afghanistan seien in dieser Zeit erhöhten Gefahren ausgesetzt. Warum das alles, wenn die Kinder am Ende sowieso einreisen dürfen?

Berater Alwasiti sieht eine politische Strategie hinter der jahrelangen Prozedur: „Das Ziel ist, die Menschen vom Zuzug abzuschrecken.“ Die Ampelregierung hat zwar im Koalitionsvertrag 2021 ausdrücklich Erleichterungen beim Familien- und Geschwisternachzug angekündigt; aber die Reform verzögert sich immer mehr. Angesichts der massiven Konflikte in der Koalition um das Migrationsrecht gilt als unsicher, ob und wann sie kommt und wie sie aussehen wird (siehe beistehender Text).

TDH-Expertin Eckert beobachtet überdies angesichts der angespannten Situation in den Kommunen „eine anschwellende Das-Boot-ist-voll-Rhetorik“ gegenüber geflüchteten Menschen. Dem will die Organisation gemeinsam mit Pro Asyl eine bundesweite Aktion entgegensetzen, unter dem Titel „#Vergissmeinnicht – Geschwister gehören zusammen“ zum Internationalen Tag der Familie am kommenden Montag.

Geschwisternachzug wird jahrelang hinausgezögert

„Die Politik erkennt nicht an, wie wichtig das Geschwisterverhältnis für Minderjährige ist“, bemängelt Eckert. Nicht nur, dass das Grundgesetz in Artikel 6 die Familie unter besonderen Schutz stellt. Hilfswerke und Beratungsstellen beobachten überdies, wie stark jahrelange Unsicherheit über den Familiennachzug Betroffene zermürbt und damit Integration erschwert.

Terre des Hommes hat zwei Kernforderungen, die viele Kinderrechts- und Flüchtlingsorganisationen teilen: Minderjährige Geschwister müssten unabhängig von den Eltern einen eigenen Rechtsanspruch auf Nachzug zu minderjährigen Geflüchteten haben. Und generell müsse die Ampel Menschen mit „subsidiärem Schutz“ – vor allem Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan, Somalia und Irak – wieder die gleichen Rechte auf Familiennachzug geben wie solchen, die als individuell Verfolgte anerkannt sind.

Die Sorge, dass durch solche Erleichterungen die Flüchtlingszahlen deutlich steigen können, ist laut Eckert haltlos. Das lasse sich aus Statistiken der Bundesregierung ableiten: Demnach stellen unbegleitete Minderjährige nur einen kleinen Bruchteil aller Flüchtlinge. Zudem wurden in den fast fünf Jahren von Januar 2018 bis September 2022 deutschlandweit gerade mal 5 700 Visa für den Elternnachzug zu unbegleiteten Minderjährigen bewilligt.

Asylpolitik in Deutschland

Dass es schon jetzt anders geht, wenn denn der politische Wille dafür da ist, machen die Bundesländer Schleswig-Holstein und Berlin vor. Beide haben seit einigen Jahren Regelungen, nach denen minderjährige Geschwister gleich mit den Eltern zu ihren hier lebenden Brüdern oder Schwestern nachreisen können. Entsprechend entscheiden die kommunalen Ausländerbehörden in den beiden Ländern. Eine Praxis, die auch die Ämter und Visastellen entlastet, weil Fälle nicht mehrfach angefasst werden müssen.

In den anderen Bundesländern dagegen herrscht den Fachleuten zufolge Entscheidungswildwuchs. Eckert und Alwasiti: „Von Kommune zu Kommune wird unterschiedlich entschieden.“ Denn am Ende haben die Ausländerbehörden das letzte Wort darüber, wie streng sie das Kriterium der Wohnraum-Erfordernis anwenden.

Glück haben etwa geflüchtete Kinder und Jugendliche, die nach Potsdam kommen: Hier hat die Stadt, wie die FR erfuhr, eine unbürokratische Regelung gefunden, die den Geschwisternachzug zeitgleich mit den Eltern sicherstellt. Paul Stieber, Landeskoordinator für Brandenburg beim Bundesverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (Bumf), beklagt allerdings, dass in anderen Landkreisen Brandenburgs „gar nichts geht“. Manchmal entschieden sogar Sachbearbeiter:innen innerhalb einer Behörde unterschiedlich: „Damit entscheidet dann der Anfangsbuchstabe des Namens der Geflüchteten darüber, ob ein Kind oder Jugendlicher seine Geschwister wiedersieht.“

Weitere Informationen von Terre des Hommes

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