„Mitten in der Gesellschaft zu finden“: Antisemitismus ist in Deutschland laut Bericht Alltag

Jüdinnen und Juden in Deutschland leben mit Anfeindungen und Gewalt. Viele leben ihren Glauben zurückgezogen, schildert die Otto-Brenner-Stiftung.
Berlin – Erfahrungen mit Antisemitismus prägen für viele Jüdinnen und Juden in Deutschland den Alltag – auch jenseits der vielen judenfeindlichen Straftaten, die von der Polizei registriert werden. So werden jüdische Menschen im Supermarkt oder im Kino als jüdisch erkannt und beleidigt – oder am Briefkasten wird ein Hakenkreuz eingeritzt.
Das haben Betroffene und Fachleute im Gespräch mit dem Autor Michael Kraske geschildert, der die Ergebnisse in einem Arbeitspapier für die gewerkschaftsnahe Otto-Brenner-Stiftung zusammengefasst hat. Es wird am heutigen Dienstag unter dem Titel „Antisemitismus. Alte Gefahr mit neuen Gesichtern“ veröffentlicht, lag der Frankfurter Rundschau aber bereits vorab vor.
„Ignoranz, Unwissenheit und Hilflosigkeit im Umgang mit antisemitischer Gewalt“ besorgniserregend
Obwohl Antisemitismus „für viele jüdische Menschen in Deutschland alltagsprägend“ sei, werde er häufig „als ein Randphänomen verstanden“, konstatiert der Geschäftsführer der Otto-Brenner-Stiftung, Jupp Legrand. „Das Unwissen darüber, wie weit verbreitet antisemitische Einstellungen sind und in welchen Formen sich Antisemitismus zeigt, ist besorgniserregend.“ Auch in Sicherheitsbehörden, die für den Schutz jüdischen Lebens zuständig sind, seien „Ignoranz, Unwissenheit und Hilflosigkeit im Umgang mit antisemitischer Gewalt“ besorgniserregend – wie sich etwa im Zusammenhang mit dem versuchten Anschlag auf die Synagoge in Halle im Jahr 2019 gezeigt habe.
Die virulente Bedrohung hat Folgen für den Alltag – das schildern die Betroffenen, die von Kraske befragt wurden. „Ein großer Teil lebt sein Judentum ziemlich zurückgezogen“, berichtet etwa Nora Goldenbogen, Vorsitzende des Landesverbands Sachsen der Jüdischen Gemeinden. „Man muss Kraft aufwenden, um zu dem zu stehen, was man ist“, stellt sie fest. Zwar plädiert sie dafür, sich nicht zu verstecken. Aber das Thema Sicherheit werde immer mitgedacht.
Antisemitismus: Für viele Jüdinnen und Juden permanente Unsicherheit
„Die Bedrohung schränkt das Leben ein und prägt den Alltag“, formuliert auch Biancy Loy, wissenschaftliche Referentin beim Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus in Berlin. Für viele Jüdinnen und Juden sei die permanente Unsicherheit Teil ihrer Normalität: „Sie müssen jeden Tag die Abwägung zwischen Sichtbarkeit und Sicherheit treffen.“
Zu selten werden die Betroffenen nach Einschätzung von Autor Kraske und von ihm Befragten öffentlich gehört. „Es ist geradezu makaber, dass die Debatte darüber, was antisemitisch ist und was nicht, fast ausschließlich von Nicht-Juden geführt wird“, sagt Marina Chernivsky in Kraskes Interview, die Gründerin des Kompetenzzentrums für Prävention und Empowerment der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland. „Das ist so, als würden Männer exklusiv darüber entscheiden können, was Sexismus ist.“
Kraske hat auch Josef Schuster interviewt, den Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland. „Man muss ganz klar sagen, dass Antisemitismus in ganz alltäglichen Gesprächen mitten in der Gesellschaft zu finden ist“, stellt Schuster fest. Die AfD spiele bei der Normalisierung des Antisemitismus eine wichtige Rolle, etwa indem sie das Verbrechen der Shoah relativiere. Ähnlich hatte das in der vorigen Woche die Amadeu-Antonio-Stiftung in ihrem Lagebild Antisemitismus formuliert. „Maßgeblich hat die Partei im Laufe ihres Bestehens zur Verschiebung der Grenzen des Sagbaren beigetragen“, hieß es dort.