Hinweise auf NSU-nahes Terrornetzwerk in Kassel

Hinweise auf ein NSU-nahes Terrornetzwerk lassen sich nach dem Mord an Walter Lübcke nicht mehr ignorieren.
Je mehr über den Mörder von Walter Lübcke und sein Umfeld bekannt wird, desto schlimmer wird der Alptraum. Die neuesten Erkenntnisse legen nahe, dass sich der Täter Stephan E. in einem Unterstützerumfeld bewegt hat, das in Kassel seit der Zeit des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) besteht. Er hat bei der Planung seines Mordes von Neonazistrukturen profitiert, die auch nach dem Ende der rechtsterroristischen Mordserie weiter bestanden.
So hat Stephan E. sich Waffen beschafft, versteckt und teilweise mit ihnen gehandelt. E. gestand den Ermittlern, dass er neben der Tatwaffe auch zahlreiche andere Schusswaffen besitze – darunter eine Pumpgun und eine Maschinenpistole vom israelischen Typ Uzi. E. offenbarte auch die Verstecke – er hatte die Waffen auf dem Gelände seines Arbeitgebers vergraben. Die Tatwaffe vom Kaliber 9 Millimeter war nicht darunter. Bereits 2014 soll er angefangen haben, sich Waffen zu beschaffen, die Tatwaffe kaufte er 2016, drei Jahre, bevor er den tödlichen Schuss auf Walter Lübcke abfeuerte.
Verbindung auch zum NSU
Zwei Männer wurden wegen des Verdachts der Beihilfe zum Mord festgenommen, der Vermittler und der Verkäufer der Tatwaffe. Der 64-jährige Elmar J. aus dem Landkreis Höxter hat die Pistole verkauft – über ihn weiß man nicht viel. Er gilt als Einzelgänger, lebt im Anbau einer leeren Gaststätte mitten im Örtchen Natzungen im Landkreis Höxter, 50 Kilometer von Kassel entfernt. Über den Vermittler weiß man mehr. So viel, dass sich hinter dem Mord an Walter Lübcke ein Abgrund auftut – und in diesem Abgrund sind die verdrängten Strukturen des NSU zu sehen.
Der 43-jährige Markus H. soll den Kontakt zwischen dem kaufwilligen E. und dem Verkäufer im Gaststättenanbau hergestellt haben. Hermann Schaus kennt den Namen Markus H. nur allzu gut. In den Akten des NSU-Untersuchungsausschusses des hessischen Landtags hat der Linken-Obmann ihn immer gelesen. Nachdem der NSU am 6. April 2006 in Kassel Halit Yozgat in seinem Internetcafé erschossen hatte, wurde auch H. vom BKA befragt. Er soll das Mordopfer gekannt haben. Nach seinem rechtsextremen Hintergrund fragten die Ermittler damals nicht. Dabei war H. nach Schaus’ Informationen bereits seit Anfang der 1990er Jahre aktiv, als Anhänger der später verbotenen FAP und der Kameradschaft „Freier Widerstand Kassel“. 2009 war er mit Stephan E. beim Überfall auf die 1.-Mai-Gewerkschaftskundgebung in Dortmund dabei.
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Markus H. soll aus der Nähe von Rudolstadt in Thüringen stammen – und auch dort in rechtsextremen Kreisen verkehrt haben. Hier war das Kernland des NSU. Von hier stammt Tino Brandt, Helfer von Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt, Kopf des „Thüringer Heimatschutzes“ und Verfassungsschutzspitzel.
Hinweise auf rechtes Unterstützer-Netzwerk in Kassel
„Es wird immer wahrscheinlicher, dass der NSU in Kassel dauerhaft eine Unterstützerzelle hatte, die womöglich weiter existierte“, sagt Schaus. Eine Zelle, die Stephan E. beim Anlegen eines Waffenarsenals half. Er ist – tief im Alptraum – vorsichtig optimistisch: „Es scheint so, dass den Behörden heute gelingt, was im NSU-Kontext nie gelingen wollte, nämlich auch Helfer und ein mögliches Umfeld zu ermitteln.“
Auch bei der Vorstellung des Verfassungsschutzberichts war zu sehen, wie sich die Zeiten geändert haben. Im vorigen Jahr saß neben Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) der damalige Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz, Hans-Georg Maaßen, der wegen verharmlosender Äußerungen über den Rechtsextremismus Monate später seinen Hut nehmen musste, sich mittlerweile vorrangig in der rechtslastigen „Werte Union“ der CDU engagiert und Koalitionen mit der AfD nicht mehr ganz ausschließt. Auch begannen die Verfassungsschutzberichte zuletzt meist mit Informationen über den islamistischen Terrorismus.
Seehofer: „hohe Gefährdungslage“
Nun saß statt Maaßen sein Nachfolger Thomas Haldenwang da und der Rechtsterrorismus ist das erste Thema. Seehofer verwies auf eine „hohe Gefährdungslage“. Die Fakten bestätigten dies. So wuchs die Zahl der Rechtsextremisten um weitere 100 auf jetzt 24 100, „so dass“, wie der Minister ausführte, „ein neuer Höchststand erreicht ist“. Rund die Hälfte, nämlich 12 700, gelten als gewaltbereit. Seehofer nannte das „ausgesprochen besorgniserregend“ – und die „Identitäre Bewegung“, die den ideologischen Grundstoff liefert, „geistige Brandstifter“. Deren Ethnopluralismus sei „nichts anderes als Rassismus“. Der CSU-Politiker erinnerte ferner daran, dass die Sicherheitsbehörden zuletzt sechs bundesweite Vereinsverbote gegen Rechtsextremisten ausgesprochen hätten – und sagte, dass die Sicherheitsbehörden die Probleme „nicht allein bewältigen“ könnten. So trügen auch die digitalen Netzwerke eine große Verantwortung.
Haldenwang erklärte, man dürfe bei der Bekämpfung des Rechtsextremismus „nicht nachlassen“. Und er kam wie Seehofer auf Reichsbürger und Selbstverwalter zu sprechen, die „durch die Bank staatsfeindlich“ seien und von denen fünf Prozent Waffenscheine hätten. Die Sicherheitsbehörden gingen dem „mit Hochdruck“ nach. Tatsächlich ist die Zahl der Reichsbürger und Selbstverwalter um 13 Prozent auf 19 000 angewachsen; 950 von ihnen gelten als Rechtsextremisten im engeren Sinne.
Dabei ließ eine Bemerkung des Verfassungsschutzchefs aufhorchen. Er wertete es als positives Zeichen, dass zuletzt keine rechtsextremistische Partei bei Wahlen nennenswerte Erfolge erzielt habe. Auf Nachfrage stellte Haldenwang klar, die AfD sei aus seiner Sicht nicht rechtsextrem – wenngleich die „Junge Alternative“ und der „Flügel“ einer einschlägigen Prüfung unterzogen würden. Mit anderen Worten: Nach dem Lübcke-Mord gaben Seehofer und Haldenwang dem Thema Rechtsextremismus Priorität und der Erläuterung der Gefahren mehr Raum. Überdies äußerten sie sich dazu in einer entschiedeneren Sprache.
Grünen-Chef Robert Habeck stellt all das nicht zufrieden. „Wie inzwischen selbst Sicherheitsbehörden sagen, gibt es bei der Analyse und folglich der Bekämpfung von rechten Netzwerken große Defizite“, sagte er dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Sie bildeten sich zunehmend im Internet und griffen „von dort in die reale Welt über“. Zugleich schüfen sie den Nährboden für Straftaten, initiierten und verstärkten sie. Der Verfassungsschutz müsse sich diesen neuen Herausforderungen gemäß neu aufstellen, befand der Grünen-Chef, und solle in zwei Bereiche aufgegliedert werden: ein „Institut zum Schutz der Verfassung“ und ein „Amt zur Gefahrenerkennung und Spionageabwehr“. „Es geht darum, das Vertrauen in die Funktions- und Handlungsfähigkeit des Staates zu bewahren“, sagte er.
Rechtsextremisten wollen Leichensäcke und Ätzkalk bestellen
Wie gefährlich die Strukturen sind, mit denen die Dienste zu kämpfen haben, ist in Mecklenburg-Vorpommern zu sehen. Da hat eine Gruppe von Rechtsextremisten in Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg für Angriffe auf politische Gegner rund 200 Leichensäcke und Ätzkalk bestellen wollen. Das erfuhr das RND aus Kreisen des Inlandsnachrichtendienstes. Die dreiseitige, handgeschriebene Aufstellung stammt demnach von Mitgliedern der rechtsextremistischen Vereinigung „Nordkreuz“. Die Bundesanwaltschaft ermittelt seit August 2017 gegen Mitglieder des Netzwerks wegen des Verdachts der Vorbereitung einer terroristischen Straftat. „Nordkreuz“ gehören mehr als 30 sogenannte Prepper an, die über den Messengerdienst Telegram miteinander verbunden sind und sich auf den „Tag X“ vorbereiten – den Zusammenbruch der staatlichen Ordnung durch Flüchtlingszuzug oder islamistische Anschläge und die anschließende Liquidierung politischer Gegner.
Die meisten Personen der Chat-Gruppe stammen aus dem Umfeld von Bundeswehr und Polizei, darunter mehrere Ehemalige sowie ein aktives Mitglied des Spezialeinsatzkommandos (SEK) des Landeskriminalamts (LKA) Mecklenburg-Vorpommern. Alle Mitglieder von „Nordkreuz“ haben Zugang zu Waffen und sind geübte Schützen. Gegen drei der Männer ermittelt parallel die Staatsanwaltschaft Schwerin. Ihnen wird vorgeworfen, seit April 2012 illegal rund 10 000 Schuss Munition sowie eine Maschinenpistole aus Beständen des LKA abgezweigt zu haben. Die Beschuldigten bestreiten, „Todeslisten“ angelegt und Ermordungen geplant zu haben.
In Sicherheitskreisen heißt es dagegen, die Vorbereitungen auf den „Tag X“ seien mit „enormer Intensität“ betrieben worden. Die „Prepper“ hätten unter Zuhilfenahme von Dienstcomputern der Polizei knapp 25 000 Namen und Adressen zusammengetragen. Dabei handele es sich in den allermeisten Fällen um Personen aus dem regionalen Umfeld der „Prepper“, bevorzugt Lokalpolitiker, die sich als „Flüchtlingsfreunde“ zu erkennen gegeben hätten.
Die rechtliche Lage: Beihilfe zum Mord
Auch nachdem zwei weitere Beschuldigte im Mordfall Walter Lübcke festgenommen wurden, geht die Bundesanwaltschaft bisher nicht von einer rechtsterroristischen Organisation aus. Den am Donnerstag festgenommenen Männern Elmar J. (64) und Markus H. (43) wird Beihilfe zum Mord an dem Kasseler CDU-Politiker vorgeworfen – also nicht Mittäterschaft und auch nicht Mitgliedschaft in einer rechtsterroristischen Vereinigung.
Laut Markus Schmitt, Sprecher der Bundesanwaltschaft, hat Markus H. den Kontakt zwischen dem geständigen Attentäter Stephan E. und dem Waffenverkäufer Elmar J. aus Höxter hergestellt. Elmar J. soll die mutmaßliche Tatwaffe dann 2016 an Stephan E. verkauft haben. Beide hätten, so die Bundesanwaltschaft weiter, die rechtsextremistische Gesinnung des Stephan E. gekannt und „es für möglich gehalten und billigend in Kauf genommen, dass Stephan E. die Schusswaffen zu einem politisch motivierten Tötungsverbrechen einsetzen wird“.
Das sind die Voraussetzungen für Beihilfe zum Mord. Hätten beide von den konkreten Mordplänen gewusst und unmittelbar hierfür die Waffe besorgt, wäre es sogar Mittäterschaft. Rechtlich wären sie dann ebenfalls Mörder. Für solch ein konkretes Wissen gibt es momentan aber keine Anhaltspunkte. Dass der Waffendeal 2016 stattfand, die Ermordung Lübckes erst Mitte 2019, könnte dafür sprechen, dass die Festgenommenen damals den konkreten Attentatsplan nicht kannten.
Eine Terrororganisation würde voraussetzen, dass sich mindestens drei Personen zusammenschließen, um politisch motivierte Verbrechen zu begehen. Dafür gibt es offenbar bisher keine Indizien. Allerdings will die Bundesanwaltschaft die Beziehungen zwischen Stephan E., Elmar J. und Markus H. weiter durchleuchten. Das betrifft auch zwei weitere Personen, an die Stephan E. nach eigenen Angaben selbst Waffen verkaufte. Dass bei diesen eine rechtsextreme Gesinnung vorliegt und sie in den Mord verstrickt sind, dafür fehlen den Ermittlern bisher ebenfalls Anhaltspunkte. (Ursula Knapp)
Extremismus in Zahlen
Der Verfassungsschutzbericht 2018 nennt Zahlen nicht nur für Rechtsextremismus, sondern auch für Islamismus und Linksextremismus.
Über 24.000 Menschen in Deutschland stuft die Behörde als rechtsextrem ein, davon fast 13.000 als gewaltorientiert.
„Reichsbürger und Selbstverwalter“ werden im Bericht für 2018 in einem eigenen Kapitel geführt, neben den Rechtsextremen. Insgesamt gehören der Szene 19 000 Menschen an, die behaupten, das „Deutsche Reich“ existiere fort, oder allgemein die Bundesrepublik ablehnen. Verbreitet ist in der Gruppe eine große Affinität zu Waffen.
An rechtsextremistischen Kundgebungen und Demonstrationen nahmen 2018 laut Verfassungsschutz fast 58.000 Menschen teil. 2017 waren es nur 16.400 Teilnehmer.
Das linksextremistische Potenzial stieg dem Bericht zufolge 2018 um gut acht Prozent auf insgesamt 32.000 Menschen, die Gesamtzahl gewaltorientierter Linksextremisten blieb unverändert bei 9000. Gut 4600 linke Delikte wurden erfasst, 2017 waren es 6393 gewesen.
Im Bereich Islamismus stieg die Zahl der Anhänger von 10.800 (2017) auf 11.300 im vergangenen Jahr. In der islamistischen Szene sei in den vergangenen Jahren eine Kräfteverschiebung in den gewaltorientierten beziehungsweise dschihadistischen Bereich zu verzeichnen, heißt es im Verfassungsschutzbericht. (dpa/rü)