Brand nach Angriff auf Atomkraftwerk-Gelände in der Ukraine: Wie nah war die Katastrophe?

Bei Gefechten um das ukrainische Atomkraftwerk Saporischschja bricht ein Feuer aus. Es wird gelöscht, hätte aber katastrophale Folgen haben können.
Saporischschja – Die russischen Panzer hätten gewusst, wohin sie feuerten, versicherte ein sichtlich übernächtigter Wolodymyr Selenskyj am Freitag (04.03.2022) bei einer Videoansprache. „Das war direkter Beschuss der Atomreaktoren.“ Und diese Nacht, so der ukrainische Präsident, hätte das Ende Europas bedeuten können.
Am Freitag kam es bei Gefechten um das südukrainische Atomkraftwerk Saporischschja zu einem Feuer auf dem Kraftwerksgelände. Nach Angaben der Feuerwehr brannten drei Etagen eines Trainingszentrums.
Brand auf Atomkraftwerk-Gelände in der Ukraine: „Die Beschüsse sind sehr stark“
Ein Mitarbeiter des Kernkraftwerkes hatte in der Nacht auf Telegram erklärt, der Brand sei in Folge russischen Beschusses ausgebrochen, die Feuerwehr hätte keine Möglichkeit, zum Brandherd zu gelangen. „Die Beschüsse sind sehr stark“, zitiert das ukrainische Portal „liga.net“ den Pressesprecher des AKWs. Der Reaktorblock eins sei beschädigt werden. „Wir können nicht vorhersagen, welche Folgen es geben wird.“
Am Morgen entspannte sich die Lage wieder. Gegen sechs Uhr mitteleuropäischer Zeit wurde der Brand in dem Gebäude gelöscht. Kurz darauf bestätigten ukrainische Medien, russische Truppen hätten das Gelände des Kraftwerkes besetzt.
US-Botschaft für die Ukraine spricht von „Kriegsverbrechen“
Die US-Botschaft für die Ukraine sprach im Zusammenhang mit dem Brand von einem „Kriegsverbrechen“. Die Kämpfe sollten noch am Freitag den UN-Sicherheitsrat in New York beschäftigen.
Trotz Selenskys Schilderung des Angriffs erwies sich der Reaktorblock eins als unbeschädigt. Die Internationale Agentur für Atomenergie verlautbarte auf Twitter, die ukrainischen Behörden hätten ihr mitgeteilt, das Feuer habe die wesentlichen Anlagen nicht berührt. „Eine Veränderung der Strahlenwerte wurde nicht gemeldet.“
Und es bleibt strittig, auf welche Ziele und aus welchen Waffen geschossen wurde. Igor Konaschenkow, Sprecher des Verteidigungsministeriums in Moskau, machte die Gegenseite für den Brand verantwortlich. Die russischen Truppen hätten die Stadt Enerhodar und das AKW schon am 28. Februar unter ihre Kontrolle gebracht, die Angestellten des Atommeilers aber ihren gewohnten Betrieb fortgesetzt.
Russland sieht die Schuld bei der Ukraine
Laut Konaschenkow hatten ukrainische Kräfte aus mehreren Etagen eines Ausbildungsgebäudes außerhalb des AKWs eine russische Patrouille unter heftigen Beschuss genommen, um Antwortfeuer zu provozieren. Sie seien von den Russen mit Schüssen vertrieben worden, hätten aber vor ihrer Flucht im Gebäude Feuer gelegt. Die Agentur RIA Nowosti zitierte Konoschenkow mit den Worten, Ziel sei es gewesen, „Russland zu beschuldigen, es habe einen Herd radioaktiver Verseuchung geschaffen“.
Ein gezielter atomarer Terrorschlag der russischen Streitkräfte gegen die Ukraine wäre in dieser Nacht eher unsinnig gewesen. Laut BBC wehte der Wind in Richtung Südost, eine radionuklide Qualmwolke aus einem beschädigten Reaktor hätte sich also in Richtung der russischen Region Krasnodar bewegt.
Angst vor der Atom-Katastrophe in Osteuropa
Auch in Russland werden die Gefechte um das AKW heftig diskutiert. „Zum ersten Mal in der Kriegsgeschichte erobert ein Land die Kernkraftwerke eines anderen Landes“, sagt der Atomexperte Andrei Oscharewski der Frankfurter Rundschau. „Warum müssen Streitkräfte ein AKW einnehmen, dass sie technisch doch nicht kontrollieren können?“ Es hätte völlig ausgereicht, die Anlage zu blockieren.
Laut BBC ist in ganz Osteuropa die Angst vor einer nuklearen Katastrophe schon seit dem 24. Februar zu spüren, als russische Truppen das havarierte AKW Tschernobyl besetzten. Drei Tage später ließ Wladimir Putin auch noch die russischen Atomstreitkräfte in Alarmbereitschaft versetzen.
Die Schießereien um das nukleare Kraftwerk am Dnipro verbreiteten weiteren Schrecken. Laut der Agentur Reuters kaufen die Bürger Tschechiens, Bulgariens und Polens im großen Umfang Jodtabletten.
Brand auf Atomkraftwerk-Gelände in der Ukraine: „Extrem gefährlich“
Das AKW Saporischschja ist mit sechs Druckwasserreaktoren und einer Gesamtleistung von 5700 Megawatt das leistungsstärkste Kernkraftwerk Europas. Es versorgt nach dem Ausfall des Unglücksreaktors von Tschernobyl fast den gesamten Süden des Landes. Und nach seiner Einnahme hat die russische Seite die Möglichkeit, die Energieversorgung für bis zu fünf Millionen ukrainischer Häuser lahmzulegen.
Nach Angaben des ukrainischen Betreibers sind die Reaktoren mit dicken Metall- und Zementhüllen geschützt, die selbst den Absturz eines Flugzeuges aushalten. „Aber um keine Schimpfwörter zu benutzen, es ist extrem gefährlich, Kampfhandlungen in Kraftwerksnähe zu veranstalten“, sagt Andrei Osarewski. „Auch wenn dabei niemand mit schweren Geschützen oder Raketen direkt auf die Reaktoren geschossen hat, ist das Risiko ungeheuerlich.“
Ein Berechnungsfehler des Richtschützen beim Ausrichten eines flächendeckenden Raketensystems oder ein gegnerisches Störsignal, das die Flugbahn eines Marschflugkörpers verändere, könnten dazu führen, dass Reaktoren direkt getroffen würden. „Und wenn die Hülle eines eingeschalteten Reaktors undicht wird, besteht die Gefahr, dass sich die radionuklide Katastrophe von Tschernobyl wiederholt.“ (Markus Holthöhne mit dpa)