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Von der „Willkommenskultur“ zu Clausnitz, Heidenau, Bautzen und Freital: Deutschland mit den zwei Gesichtern

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Von: Stephan Anpalagan

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2015: Ein Flüchtling hält nach seiner Ankunft am Münchener Hauptbahnhof ein Foto von Angela Merkel in den Händen.
2015: Ein Flüchtling hält nach seiner Ankunft am Münchener Hauptbahnhof ein Foto von Angela Merkel in den Händen. © Sven Hoppe/ dpa

Vor fünf Jahren sprach Kanzlerin Merkel ihren berühmten Satz „Wir schaffen das“. Anders war alles nur für einen kurzen Moment. Ein Gastbeitrag von Stephan Anpalagan.

Für einen kurzen Moment war alles anders. Beinahe sogar magisch.

Ausgerechnet die Deutschen versammelten sich zu Tausenden an Bahnhöfen, um Flüchtlinge zu begrüßen, um Flüchtlingskindern Stofftiere zu überreichen, um Zufluchtsuchenden Obdach und Schutzsuchenden Sicherheit zu gewähren, um zu helfen, um über sich hinauszuwachsen. Deutschlandweit waren Städte und Gemeinden überfordert angesichts all der Freiwilligen, die sich zur Verfügung stellten, die Kleider, Möbel und Stofftiere spendeten. Und dort, wo die Koordination der Hilfe zu lange dauerte, nahmen Männer und Frauen ihr Engagement in ihre eigenen Hände und organisierten Fußballtrainings, Deutschstunden und Kinderbetreuung, bürgten ideell und finanziell.

Wilkommenskultur in Deutschland - Selbst die „Bild“ machte mit

Im ganzen Land entstanden Hilfsangebote und Anlaufstellen, Lehrerinnen integrierten mit großem Einsatz Flüchtlingskinder in ihre Klassen, Polizisten häuften Überstunden an, regelten, regulierten die Menschenmassen, die tagtäglich nach Deutschland kamen und blieben oder weiter zogen. So ganz genau wusste das niemand.

Selbst die „Bild“, die noch wenige Monate zuvor gegen „Pleitegriechen” hetzte und die seit vielen Jahrzehnten Ausländer nur dann in ihre Berichterstattung aufnahm, wenn sie ihnen die Attribute „kriminell” oder “illegal” zuschreiben konnte, etablierte eine Kampagne mit dem Namen „#refugeeswelcome - Wir helfen!”.

Die Welt schien still zu stehen. Für einen kurzen Moment war alles anders. Beinahe sogar magisch. Irgendwie utopisch. Und vielleicht war das wiederum auch das Problem.

Kanzlerin Merkel 2015: „Wir haben so vieles geschafft. wir schaffen das!“

Dieses Deutschland, das Deutschland des Jahres 2015, schien entrückt, schien beseelt, schien das zu tun, was die Bundeskanzlerin auf ihrer Sommerpressekonferenz verlangte:

„Ich sage ganz einfach: Deutschland ist ein starkes Land. Und das Motiv mit dem wir an diese Dinge herangehen, muss sein: Wir haben so vieles geschafft, wir schaffen das! Wir schaffen das und wo uns etwas im Wege steht, muss es überwunden werden, muss daran gearbeitet werden. Und der Bund wird alles in seiner Macht Stehende tun, zusammen mit den Ländern, zusammen mit den Kommunen, genau das durchzusetzen.”

Wer die Zeitung aufschlug, das Radio einschaltete, erkannte sein Heimatland kaum wieder, was zum ersten Mal in der wiedervereinigten Bundesrepublik ein durchaus gutes Zeichen war und Anlass bot für Hoffnung und Zuversicht.

Für viele trotzdem unvergessen: Die Slogans der 1990er-Jahre

Doch wer in diesem Land mit dem Makel des sogenannten „Migrationshintergrundes” aufgewachsen ist, betrachtete - sofern er nicht selbst Teil der „Willkommenskultur” war - die Entwicklungen und Geschehnisse mit distanziertem Interesse. Nicht vergessen waren die Fernsehbilder und Wahlplakate der 1990er-Jahre, als ebenfalls viele Flüchtlinge nach Deutschland kamen. Damals hieß es schnell, das „Boot sei voll”, man wolle „Kinder statt Inder”, man wolle „gegen die Ausländer unterschreiben”.

Und es blieb nicht bei Worten und Unterschriftenaktionen.

In Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen, Mölln, Solingen und Lübeck brannten Flüchtlingsunterkünfte. Das Unwort des Jahres 1991 lautete „ausländerfrei”. Im Osten etablierten sich die „Baseballschlägerjahre” und der NSU formierte sich. Über 200 Menschen verloren seitdem ihr Leben durch rechte Gewalt. Wie viele genau weiß man leider nicht, weil die Sicherheitsbehörden beim Kampf gegen den Rechtsextremismus, nunja..., etwas nachlässig waren.

Das war also die Hintergrundfolie, die dann und wann aufleuchtete, wenn die Magie der Willkommenskultur zur Seite wich und einen Blick erlaubte in das andere Deutschland. Das Deutschland, in dem die Welt nicht zu Gast war, erst recht nicht bei Freunden. Wer selbst einmal Flüchtling war, verlor dieses andere Deutschland bei aller Euphorie nie aus den Augen.

Die AfD als Gegenpol zur Willkommenskultur

Denn auch wenn sich weite Teile des Landes mit Leidenschaft und Courage bei der Versorgung und Integration der Flüchtlinge engagierten, so waren die kritischen Gegenstimmen nie verstummt, sondern ertönten lautstark und zahlreich. Angelehnt an die Worte Angela Merkels offenbarte Alexander Gauland in erfrischender Ehrlichkeit die Sichtweise der AfD, indem er sagte: „Wir wollen das gar nicht schaffen” und gleich zwei Bücher titelten „Wir schaffen es nicht” und “Nein, wir schaffen das nicht!”. Auch Rainer Wendt, der als menschgewordene Polizei-Actionfigur immer dort auftaucht, wo man mit besorgten Mienen vor kriminellen Ausländern warnt, schrieb ein Buch mit dem Titel “Deutschland in Gefahr: Wie ein schwacher Staat unsere Sicherheit aufs Spiel setzt”. Angelehnt ist das Buch optisch und inhaltlich an Thilo Sarrazins Bestseller “Deutschland schafft sich ab: Wie wir unser Land aufs Spiel setzen”.

Kaum etwas bestätigte das Bedrohungsszenario der Kritiker so sehr wie die Geschehnisse in der Silvesternacht 2015/2016, als Männer aus dem nordafrikanisch/arabischen Raum massenhaft sexuelle Übergriffe auf Frauen verübten. All jene, die vehement wie genussvoll davor warnten, dass bald die Stimmung kippen könnte, sahen sich nun darin bestätigt, dass die Stimmung endlich kippen würde. Denn so schön das gesellschaftliche Miteinander der Willkommenskultur auch sein mochte, so ließ sich aus ihr kaum politisches und wirtschaftliches Kapital schlagen.

Sowohl die AfD als auch die CDU/CSU schienen in dieser Zeit wie abgemeldet. Denjenigen Parteien, die ihre politischen Zugewinne durch die Kriminalisierung von Ausländern und durch das Postulat von Recht und Ordnung erzielten, kam eine Zivilgesellschaft, die sich umeinander sorgte und aufeinander achtete ganz und gar ungelegen. Und auch die Sicherheitsbehörden, die in Form von Innenministerien, Gewerkschaften und sonstigen Wortführern ihre Relevanz dadurch behaupten, dass steigende Kriminalitätszahlen zu mehr Personal, mehr Budget, mehr Ausstattung führen, konnten kaum verhehlen, dass sich Angst und Kontrollverlust positiv auf das eigene Geschäftsmodell auswirken. Rainer Wendts Buch erscheint vor diesem Hintergrund beinahe wie ein Businessplan.

Menschliche Haltung schadet der Bild

Und was den Kursschwenk der „Bild“ betraf, erzählte Julian Reichelt, der spätere Chefredakteur, auf einer Konferenz im Jahr 2016:

„Nichts hat uns ganz nachweislich wirtschaftlich in der Reichweite so sehr geschadet wie unsere klare, menschliche, empathische Haltung in der Flüchtlingskrise. Wir haben nie auf Fakten, nie auf Ereignisse, nie auf Geschichten verzichtet, wir haben aber durchaus darauf verzichtet, Geschichten in gewisser Weise zu intonieren und die Angst vor den Menschen, die da kommen, für das, was man so schön Clickbaiting nennt, in irgendeiner Weise zu verwenden.“

Parteien, Zeitungen und Institutionen der öffentlichen Sicherheit, die allesamt davon leben, dass sie von furchtsamen Menschen gewählt, gekauft, geklickt oder ausgestattet werden, mussten aufatmen als sich die Willkommenskultur dem Ende entgegen neigte. Als die Flüchtlinge nicht mehr nur Nachbarn und Freunde, sondern endlich wieder zu “Messermigranten” und “Nafris” wurden.

Für einen kurzen Moment aber war alles anders. Beinahe sogar magisch. Irgendwie utopisch. Aber das war nun vorbei.

Clausnitz, Heidenau, Freital und Bautzen - Ausschreitungen Rechtsextremer

In kurzer Abfolge tauchten die Orte Clausnitz, Heidenau, Freital und Bautzen auf, standen nicht nur für sich selbst, sondern für die Ausschreitungen und Grenzüberschreitungen, die sich im ganzen Land ausbreiteten. Innerhalb weniger Jahre verübten Rechtsextreme, aber auch gewöhnliche Bürger, mehrere tausend Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte. Auf einer Veranstaltung zum Bau einer solchen Flüchtlingsunterkunft schlägt dem Regierungspräsidenten Walter Lübcke derart viel Hass entgegen, dass er später von Neonazis ermordet wird. Die Terroranschläge in Halle und Hanau kamen hinzu, speisten sich aus dem Gefühl des Kontrollverlustes. „Deutschland in Gefahr”. „Bis zur letzten Patrone gegen die Einwanderung”. „Der Islam gehört nicht zu Deutschland”. Solche Sachen.

Das andere Deutschland. Es ist wieder da. Und ist seitdem auch nicht wieder verschwunden.

2020 - Deutschland mit zwei Gesichtern

Im Jahr 2020 hallen die Worte der Bundeskanzlerin aus dem Jahr 2015 nach. Wenige Monate nachdem Angela Merkel ihre mittlerweile berühmten Worte sprach, sagte sie noch etwas anderes:

„Und ich muss ganz ehrlich sagen, wenn wir jetzt anfangen uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land.”

Dieses Land hat in einer Notsituation ein freundliches Gesicht gezeigt, hat Menschen aufgenommen und sie versorgt. Wir alle haben davon profitiert und werden weiterhin profitieren. Heute, fünf Jahre nach ihrer Ankunft, geht die Hälfte aller Flüchtlinge einer Arbeit nach, viele von ihnen zahlen Steuern und Sozialversicherungsabgaben. Flüchtlingskinder gehen in Regelschulen, manche von ihnen haben mittlerweile sogar Abitur gemacht. Sie haben es geschafft.

Die Deutschen für ihren Teil haben in einem gewaltigen Kraftakt die Integration von hunderttausenden Menschen eingeleitet und zu Teilen bewältigt. Sie haben Herzensgüte und Menschenfreundlichkeit an den Tag gelegt. Und auch wenn das andere Deutschland wieder seine hässliche Fratze zeigt, haben tausende ehrenamtliche Flüchtlingshelfer nicht aufgehört weiterzuarbeiten, haben Anteil genommen und vom Überfluss abgegeben. Das ist wunderbar. Und auch ein bisschen magisch.

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