Ein Interview mit Angela Merkel - im Jahr 1991: Der Rückblick von Fotografin Herlinde Koelbl

Zwischen 1991 und 2021 ließ sich Angela Merkel, mit einer kurzen Unterbrechung, jedes Jahr von Herlinde Koelbl fotografieren. Bei diesen Begegnung entstanden eindrucksvolle Porträts und Gespräche, die Merkels Aufstieg zu einer der mächtigsten Politikerinnen zeigen. Diese sind nun gesammelt als Buch erschienen. Ein Auszug
Die fotografische Langzeitstudie von Herlinde Koelbl, die jetzt im Taschen Verlag erschienen ist, zeigt eindrücklich in Bild und Wort, wie die Spuren der Macht Angela Merkel verändert haben. Zu Beginn des Fotorituals war Merkel noch fast 15 Jahre davon entfernt, die erste Kanzlerin Deutschlands zu werden. Es folgt ein Auszug aus dem allerersten Gespräch, dass die beiden Frauen im Jahr 1991 miteinander führten.
Frau Merkel, als frischgebackene Frauen- und Jugendministerin sind Sie nun mitten ins Licht der Öffentlichkeit gerückt …
Gerückt worden!
Sie werden hofiert, und alle Leute sind nett zu Ihnen. Überkommt einen da nicht die Angst, dass das nicht immer so bleiben wird?
Tatsächlich stelle ich mir jedes Mal, wenn ich auf den Hof des Deutschen Bundestages trete und die Leute mir freundlich „Guten Tag!“ sagen, die Frage: Wer wird mich noch so freundlich grüßen, wenn ich morgen nicht mehr Ministerin bin? Sicher sehr viel weniger! Die anfangs große Freundlichkeit mir gegenüber hat auch schon nachgelassen. Gerade wenn jemand schneller aufsteigt, als es gewöhnlich der Fall ist, stellen sich leicht Neid und Missgunst ein. Zumindest steht man unter scharfer Beobachtung durch die Umwelt und erlebt scharfe Reaktionen auf jeden kleinen Fehler. Vielleicht genoss ich ja anfangs allgemeines Wohlwollen als deutsche Ministerin, so nach dem Motto: Der wollen wir nichts tun, die ist ja selber auch nicht so aggressiv. Aber diese Schonzeit ist jetzt vorbei.

Haben Sie Angst davor, unter Beschuss zu geraten?
Nur vor ungerechten und absichtlich falschen Behauptungen habe ich Angst. Ich verabscheue bösartige persönliche Querelen.
Angela Merkel: Das Gesicht der Macht - porträtiert von Herlinde Koelbl
Wovor haben Sie sonst noch Angst?
Ich kenne die Angst, die sich einstellt, wenn zu vieles gelingt. Ich vertrete die Meinung, dass die Summe des Unglücks ungefähr der Summe des Glücks entspricht. Das heißt, wenn ich sehr viel Glück habe und eine gute Zeit erlebe, fürchte ich, dass danach einmal eine schlechte kommt.
Zu Person & Buch
Herlinde Koelbl zählt zu den renommiertesten deutschen Fotokünstlern. Ihr umfassendes Werk zeichnet sich vor allem durch fotografische Langzeitprojekte aus, oft ergänzt durch Gespräche und Videos. Ihre Fotografien wurden in zahlreichen internationalen Ausstellungen gezeigt und sind in vielen wichtigen Sammlungen vertreten. Für ihr Schaffen wurde sie mehrfach ausgezeichnet, unter anderem 2009 mit dem Bundesverdienstkreuz.
Angela Merkel (CDU) ist seit 22. November 2005 deutsche Bundeskanzlerin und seit 26. Oktober 2021 noch geschäftsführend im Amt, bis der 20. Deutsche Bundestag ihre Nachfolge bestimmt hat. Von 1991 bis 1994 war sie Bundesministerin für Frauen und Jugend, von 1994 bis 1998 Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit.
Herlinde Koelbl. Angela Merkel
Taschen Verlag, Hardcover, 30 x 30 cm, 2,68 kg, 248 Seiten, 50 Euro, erscheint am heutigen Montag, 15. November. www.taschen.com
Allein durch Glück wird man aber nicht Ministerin. Welchen Eigenschaften und Fähigkeiten verdanken Sie Ihre steile Karriere?
Ich glaube, dass ich sie in mancher Hinsicht schon eher den glücklichen Umständen verdanke. Wäre ich mit denselben Eigenschaften in der Bundesrepublik aufgewachsen, wäre mir das nicht passiert. Natürlich spielt aber auch das Persönliche eine gewisse Rolle. Ich habe eine gewisse Art von Beharrlichkeit und Durchsetzungsvermögen, obwohl ich auch nachgeben und mich mit Kompromissen abfinden kann. Außerdem habe ich einigermaßen gute Nerven und kann den Kräfteverschleiß bei einer so abrupten Karriere in Grenzen halten, obwohl ich längst noch nicht so hartgesotten bin, wie man das in der Politik wahrscheinlich auf Dauer sein muss.
Sind Sie ehrgeizig?
Ganz ohne Ehrgeiz wird es wohl nicht gehen. Wobei ich nicht sagen kann, wo sich die Freude an der Tätigkeit und der Ehrgeiz zu unterscheiden beginnen, zumal in meinem Falle Ehrgeiz nur bedingt notwendig war. Mein Ehrgeiz bestand darin, die jeweilige Aufgabe vernünftig zu bewältigen, und das hat bisher zu einem ziemlich schnellen Aufstieg geführt, der mich eher ängstigt. Es war sicher nicht mein Ziel, ein Amt nach dem anderen zu bekommen. Ich wollte dem ersten gesamtdeutschen Parlament angehören, aber ich wollte nicht Ministerin oder gar stellvertretende Parteivorsitzende der CDU werden. Da frage ich mich manchmal, ob das alles zusammen nicht zu viel für mich ist, denn was ich tue, will ich auch vernünftig tun.
Ära Merkel geht zu Ende - ein Rückblick auf ihr erstes Interview als Bundesministerin
Sind Sie ein Mensch, der Herausforderungen liebt?
Ich schrecke nicht davor zurück, sie anzunehmen, aber nicht mit großer Euphorie, sondern eher mit Vorsicht. Ich stürze mich nicht ins Abenteuer, ohne über den Sinn des Ganzen und das Risiko des Scheiterns nachzudenken.

Also gehören Sie nicht zu denen, die ständig die Auseinandersetzung mit dem Gegner suchen, zum Beispiel im Sport?
Ich war nie besonders sportlich und habe eher das Gefühl, dass ich in jeder Art von Sport einem erfahrenen Gegner unterliegen würde. Karten- und andere Spiele, bei denen es auf Geschicklichkeit oder Glück ankommt, liegen mir da schon eher. In der Politik suche ich lieber die Kooperation als die Auseinandersetzung. Und eine gewisse Art von Durchsetzungsverhalten bei einigen männlichen Politikern ist mir sogar ziemlich unangenehm. Manche Leute blähen sich innerlich richtig auf und versuchen, sich gegenseitig zu übertönen, wenn sie etwas durchsetzen wollen. Ich fühle mich dabei fast körperlich bedrängt und möchte mich am liebsten wegsetzen. Das ist keine sachliche Auseinandersetzung mehr, sondern es geht einfach nur noch darum, wer dem anderen die Luft abdrücken kann. Das ist nicht meine Methode.
Lesen Sie auch: Die sechs Mythen um Angela Merkel. Zum Abschied der Kanzlerin eine Analyse von FR-Autor Stephan Hebel.
Wie werden Sie als Ministerin von den Männern behandelt? Bringt es Ihnen Vor- oder Nachteile, dass Sie eine Frau sind?
Ich glaube nicht, dass es ein Vorteil oder ein Nachteil ist, eine Frau zu sein. Es kommt mehr darauf an, ob man sich durchsetzt. Man darf nicht einerseits den gleichen Anteil an Entscheidungen wie die Männer fordern und sich andererseits ducken, wenn es hart auf hart geht und der Wind zu blasen beginnt. Man muss sich zu diesem Kampf bekennen. Bei marginalen Dingen versuche ich es vielleicht auf die freundliche Art. Wenn es aber um das Wesentliche geht, kann ich genauso knallhart wie die Männer sein. Die Hauptsache ist dann, die Nerven zu behalten. Distanz bewahren und sich nicht völlig in die Ecke drängen lassen, wenn jemand laut und sehr emotional seine Thesen verkündet. Ruhig bleiben und dem anderen zu verstehen geben, dass man gar nicht daran denkt, sich seinem Ritual anzupassen.

Haben Sie manchmal Selbstzweifel?
Ja, sicherlich. Ein Mensch ohne Selbstzweifel ist etwas Schlimmes. Und es wäre seltsam, wenn ich der Überzeugung wäre, ich sei als einzige geeignet für den Posten der Frauen- und Jugendministerin und würde immer alles großartig machen. Die vielen Erwartungen, die auf einen gerichtet sind, sind schon manchmal belastend. Wenn ich auf einer Veranstaltung 50 Briefe in die Hand bekomme, 50 Hilferufe, dann frage ich mich schon, ob ich geeignet bin, all dem gerecht zu werden. Vielleicht gibt es andere, die das, was ich tue, viel besser könnten? Ich halte es überhaupt nicht für ehrenrührig, an sich selber zu zweifeln.
Angela Merkel: Ein Rückblick auf ihre Anfänge von Herlinde Koelbl
Haben Sie manchmal die Befürchtung, dass das Amt Sie demoliert?
Ja, die habe ich ständig. Ich habe die Befürchtung, dass am Ende der Hohn der Gesellschaft größer ist, als wenn ich gar nichts getan hätte. Als normaler Mensch unbeschädigt seinen Angelegenheiten nachzugehen ist viel einfacher, als sich zuerst hochjubeln und dann – oft noch ungerechtfertigt – verdammen zu lassen. Wie man in der Öffentlichkeit mit Menschen umspringt, die zehn Jahre lang Minister waren und wirklich vieles an Privatleben aufgegeben haben, finde ich schon bedenklich. Da mache ich mir auch Sorgen über die politische Kultur in dieser Gesellschaft, wenn sich manche, die kaum bereit sind, für das Gemeinwohl Opfer zu bringen, zu selbstherrlichen Urteilen aufschwingen. Politik hat ja auch etwas mit Dienstleistung zu tun, mit der schweren Aufgabe, ein Staatswesen in Ordnung zu halten. Sie wissen ja, woher ich komme. Mir dürfen Sie ruhig glauben, dass es mir vor allem darum geht, aus dieser manchmal verkommenen und verkorksten Gesellschaft im Osten irgendetwas zu machen. Ich fühle mich hier weder besonders sicher, noch finde ich, dass ich besonders bequem sitze. Es gibt eine Menge Alternativen, sein Leben ruhiger und schadloser zu verbringen. Aus diesem Grunde stört es mich, dass ich aus dem Ganzen möglicherweise auch noch demoliert herauskomme.
Andererseits übernimmt aber niemand ein solches Amt nur aus reiner Selbstlosigkeit.
Selbstverständlich nicht. Aber man sollte auch nicht so tun, als sei es das einzig Wahre und Schöne im Leben, ein solches Amt zu haben.

Sind Sie auch stolz darauf, es schon so weit gebracht zu haben?
Ich bin stolz darauf, dass es noch zu keinem größeren Skandal gekommen ist. Aus DDR-Sicht hieß es immer, Bonn ist ein glattes Pflaster, auf dem man leicht zu Fall gebracht wird. Aber ich habe mir noch meine Gutgläubigkeit bewahrt. Ich leide noch nicht unter Verfolgungswahn und der Vorstellung, dass in Bonn alles über Intrigen und Mauscheleien läuft. Vielmehr sehe ich zu meinem Erstaunen, welch große Rolle das Element des Zufalls und die persönlichen Einzelentscheidungen in der Politik spielen.
Sie sind noch relativ jung und erst seit Kurzem im Amt. Befürchten Sie, dass Sie im Lauf der Jahre immer glatter und farbloser werden?
Wahrscheinlich werden die Schutzfunktionen immer wichtiger. Weil man bestimmte Dinge nur durchsetzen kann, wenn man relativ schablonenhaft reagiert und sich nicht alles zu Herzen nimmt. Manch einer sieht in dieser Glätte eine große Errungenschaft, aber im Grunde ist sie etwas sehr Bedauerliches. (...)
