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Amri-Vertrauter wird abgeschoben - weil er zu viel wusste?

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Von: Jan Sternberg

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Der Tatort Berliner Breitscheidplatz am 20. Dezember 2016 – einen Tag nach dem Anschlag.
Der Tatort Berliner Breitscheidplatz am 20. Dezember 2016 – einen Tag nach dem Anschlag. © dpa

Ein enger Vertrauter von Berlin-Attentäter Anis Amri wurde nach Tunesien überstellt – warum, soll nun untersucht werden.

Die deutschen Sicherheitsbehörden haben angeblich einen Mitwisser des Berliner Weihnachtsmarkt-Attentäters Anis Amri abschieben lassen, um dessen Verwicklung in den Anschlag mit zwölf Toten und mehr als 60 Verletzten im Dezember 2016 zu vertuschen. Laut einem Bericht des Nachrichtenmagazins „Focus“ soll der Mann ein Agent des marokkanischen Geheimdienstes sein. Die Marokkaner hatten das Bundeskriminalamt und den Bundesnachrichtendienst mehrmals über die Radikalisierung von Anis Amri und dessen Anschlagspläne informiert. Die Linken-Bundestagsabgeordnete Martina Renner sagte auf Anfrage: „Wenn man sich die Hinweise des marokkanischen Geheimdienstes ansieht, macht es Sinn anzunehmen, dass deren Quelle zum engen Umfeld von Amri gehört.“

Die Rede ist von dem 29-Jährigen Tunesier Bilal Ben Ammar. Er war am 1. Februar 2017 als Gefährder nach Tunis abgeschoben worden. Dort wurde er vernommen und später auf freien Fuß gesetzt. Ihm sei der Pass abgenommen worden und er habe Meldeauflagen bekommen. Unklar ist, ob er diesen nachkommt.

Ben Ammar gehörte zu den engsten Vertrauten Amris in Berlin. Am Abend vor dem Anschlag hatte er noch mit Amri zu Abend gegessen, am Tattag hatte er mehrmals mit dem späteren Attentäter telefoniert. Ben Ammar soll jetzt vor dem Untersuchungsausschuss des Bundestages zum Berliner Weihnachtsmarkt-Anschlag aussagen. Wie am Freitag aus dem Ausschuss verlautete, ist eine Mehrheit der Mitglieder für einen entsprechenden Beweisbeschluss. Offen ist aber noch, wie Ben Ammar zu finden ist und ob er in Berlin oder im Ausland vernommen werden soll. „Es ist Aufgabe der Bundesregierung, die Vernehmungsfähigkeit des Zeugen herzustellen“, sagte der Grünen-Fraktionsvorsitzende Konstantin von Notz in Berlin auf Anfrage. „Die Causa Bilel Ben Ammar und ein Jahr Untersuchungsausschuss zeigen: Die Koalition hat an der Aufklärung praktisch kein Interesse und lädt irrelevante Zeugen. Gleichzeitig wird die Ladung relevanter Zeugen wie von V-Mann-Führern von der Bundesregierung verhindert. Vor dem Hintergrund der Dimension des Anschlags ist das alles maximal irritierend“, sagte Notz weiter.

Ebenso irritierend ist auch, dass die Vernehmungsprotokolle Ben Ammars aus Tunis erst jetzt, nach zwei Jahren, beim Bundeskriminalamt aufgearbeitet werden. Was die Tunesier von Amris Vertrautem erfuhren, ist dem Untersuchungsausschuss daher noch nicht bekannt. Zuständig für die Abschiebung waren die Ausländerbehörden in Sachsen. Dort war Ben Ammar registriert. Laut der Nachrichtenagentur dpa schrieb bereits am 19. Januar – einen Monat nach dem größten islamistischen Terroranschlag in Deutschland – ein Mitarbeiter des damals noch Thomas de Maizière (CDU) unterstellten Bundesinnenministeriums in einer E-Mail an Staatssekretärin Emily Haber: „Frohe Kunde: Sachsen hat den Abschiebe-Haftantrag gestellt“. Auf Intervention des Bundeskriminalamtes habe Tunesien Ben Ammar zudem am selben Tag als tunesischen Staatsbürger anerkannt. Der Islamist saß zu diesem Zeitpunkt in Untersuchungshaft wegen Sozialhilfebetrugs.

Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) will die umstrittene Abschiebung Ben Ammars nun untersuchen lassen. „Heute Morgen hat Bundesinnenminister Seehofer von dem Vorgang Kenntnis erlangt“, sagte eine Sprecherin am Freitag. Er wolle die Sache prüfen lassen. Noch vor wenigen Wochen haben hochrangige BKA-Vertreter die Abschiebung Ben Ammars im Gespräch mit Überlebenden des Anschlags verteidigt: Er sei „hochgefährlich“ gewesen und daher zur Gefahrenabwehr außer Landes gebracht worden. Das berichtet der Anschlags-Überlebende Andreas Schwartz. Überzeugt von der Auskunft der Behörden ist er nicht. „Ich will wissen, was dieser Kumpel Amris wirklich für eine Rolle gespielt hat“, sagt er. Damit ist er nicht allein. Weitere Fragen wirft laut „Focus“ das Video einer Überwachungskamera auf, das bisher unter Verschluss gehalten wurde.

Demnach soll eine auf einem Hochhaus am Breitscheidplatz montierte Kamera gefilmt haben, wie Amri nach dem Anschlag aus dem Lkw ausstieg und flüchtete. Zu sehen sei auch, wie in dem Moment eine Person, die Ben Ammar sein könnte, einem Mann mit einem Kantholz gegen den Kopf schlägt, um Amri den Weg freizumachen.

Der attackierte Mann liegt bis heute im Koma. Die offizielle Version ist, dass er von einer herabstürzenden Weihnachtsmarkt-Bude getroffen wurde. In Unterlagen des BKA ist nach Berichten mehrerer Medien außerdem von einem Mann mit blauen Einweghandschuhen die Rede, der auf einem Tatort-Foto aufgefallen war. Der Verdacht, dass es Ben Ammar sein könnte, ließ sich jedoch nicht erhärten. Entlastend führt die Generalbundesanwaltschaft an, dass er am Tatabend gegen 21.30 Uhr mit seiner Ehefrau über private Dinge gechattet hat. „Wäre er am Tatort gewesen, ist nicht davon auszugehen, dass er Ruhe gehabt hätte, in dieser Form zu kommunizieren.“

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