Neuer Amnesty-Bericht kritisiert Türkei – doch auch AI steht am Pranger: „Ich kann es nicht glauben“

In ihrem aktuellen Bericht über die weltweite Menschenrechtslage hat Amnesty International (AI) auch der Türkei ein schlechtes Zeugnis ausgestellt. Auch AI steht in Kritik.
Erneut hat die Menschenrechtsorganisation „Amnesty International“ (AI) in ihrem aktuellen Bericht die aktuelle Menschenrechtssituation weltweit dokumentiert. Darin beklagen die Experten unter anderem „grundlose Ermittlungen, Verfolgungen und Verurteilungen von Menschenrechtsverteidigern, Journalisten und Oppositionspolitikern“ in der Türkei.
„Politiker:innen und Regierungsbedienstete hielten regelmäßig Hassreden gegen lesbische, schwule, bisexuelle, trans- und intergeschlechtliche Menschen und starteten Verleumdungskampagnen gegen sie, wobei bestimmte Medien eine verstärkende Rolle spielten. Diskriminierung, Einschüchterung und Gewalt waren besonders in der Zeit der Pride-Paraden zu beobachten, in der die Polizei friedliche Veranstaltungen gewaltsam aufzulösen versuchte und zahlreiche Teilnehmer:innen festnahm,“ heißt es in dem Bericht
Türkei ignoriert EGMR-Urteile
Die Experten beklagen auch die mangelnde Rechtsstaatlichkeit in dem Land. „Die türkischen Gerichte setzten die Urteile des EGMR in den Fällen Osman Kavala und Selahattin Demirtaş nicht um. Der Präsident und andere hochrangige Regierungsmitglieder behaupteten fälschlicherweise, dass derartige Entscheidungen für die Türkei nicht bindend seien.
Folter an Gefangenen
Auch kommt AI zufolge immer wieder zu Folter und anderen Misshandlungen. „Augenzeugenberichten zufolge schlugen im April 2022 zahlreiche Wärter im Istanbuler Marmara-Gefängnis (ehemals Silivri-Gefängnis) auf Insassen ein und versuchten sie in den Selbstmord zu treiben. Der Häftling Ferhan Yılmaz starb im April im Krankenhaus, nachdem er mutmaßlich von Gefängniswärtern gefoltert und misshandelt worden war“. Zehn weitere Gefangenen sollen anschließend in verschiedene andere Gefängnisse verlegt worden sein.
Hunderte Femizide in der Türkei
Die Experten kritisieren den Ausstieg der Türkei aus der sogenannten „Istanbul Konvention“, dass Frauen etwa vor häuslicher Gewalt schützt. Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan hatte den Rückzug aus der Vereinbarung im März 2021 beschlossen. Mit dem internationalen hatten sich die Unterzeichner dazu verpflichtet, Frauen durch Gesetze vor Gewalt zu schützen und gegen Gewalttaten vorzugehen. „Männer töteten in den ersten 10 Monaten des Jahres laut offiziellen Regierungsstatistiken mindestens 225 Frauen bei Femiziden, obwohl andere Berichte von weitaus höheren Zahlen ausgehen“, heißt es in dem Bericht von Amnesty International.
Amnesty ignoriert „KHK´li“
Der Bericht weist in Bezug auf die Türkei auch Mängel auf. Rund 200.000 Beamte ließ Staatspräsident Erdogan nach dem Putschversuch am 15. Juli 2016 per Dekret (Kanun Hükmünde Kararname) entlassen und viele unter ihnen wegen Terrordelikte verhaften. Umso mehr ist die Enttäuschung in dieser Gruppe, den sogenannten „KHK´li“, groß. „Ich kann es nicht glauben, dass in dem Amnesty-Bericht allen Gruppen in der Türkei aufgeführt werden, aber die KHK´li ignoriert werden. Vor allem geht es hier nicht um 10 bis 15 Peronen, sondern um Hunderttausende, die seit Jahren für ihrer Rechte kämpfen“, kritisiert die ehemalige Richterin Esma Ücler Koc im Gespräch mit der Frankfurter Rundschau von IPPEN.MEDIA.
„Man muss schon übermenschliche Anstrengungen anstellen um nicht zu sehen, dass es sich bei den KHK´li um keine Menschenrechtsverstöße handelt“, so Koc. Die Richterin wurde nach dem Putschversuch 2016 wie 4.500 andere Richter und Staatsanwälte zunächst entlassen und dann verhaftet. Heute lebt Koc mit ihrer Familie im deutschen Exil. Ähnlich sieht es auch der im schweizer Exil lebende Strafrechtsexperte Gökhan Günes. „Werdet ihr Korrekturen in dem Bericht vornehmen“, fragt Günes auf Twitter. Günes kritisiert zudem, dass die Experten Amnesty Berichte über Folter sowie Nacktdurchsuchungen der Anwaltskammer Ankara ignoriert wurden.
Hunderttausende von Folgen der Erdogan-Dekrete betroffen
Nach Angaben der „Ausnahmezustands-Kommission“ (Türkei: OHAL-Komisyonu) wurden 125.678 Beamte durch ein Dekrete von Präsident Erdogan aus dem Staatsdienst entlassen. „Gegen viele von ihnen wird unrechtmäßig strafrechtlich ermittelt und sie sind dem sozialen Tod ausgesetzt“, sagt die ehemalige Richterin. Bedenkt man, dass auch die Angehörigen der KHK´li von den Maßnahmen der Erdogan-Regierung betroffen sind, so ist diese Ausgrenzung der Menschen um ein vielfaches höher. Das sieht man aktuell an der staatlichen Unterstützung für Erdbeben-Opfer. „Die KHK´li bekommen nirgendwo Hilfen. Sie bekommen keine Erdbebenhilfen, sie bekommen keinen Mietzuschuss oder dürfen in staatliche Einrichtungen oder Heimen unterkommen“, sagte Mete Elci von der „Erdbeben-Solidaritäts-Plattform in Ankara“ ADDP (Türkisch: Ankara Deprem Dayanisma Platformu) in dem TV-Sender Halk TV.