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Alte Geschichten, böse Erinnerungen

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Von: Bernhard Honnigfort

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In besseren Zeiten: Ansicht der teilweise automatisierten Filter- und Vakuumpresserei der Margarethenhütte.
In besseren Zeiten: Ansicht der teilweise automatisierten Filter- und Vakuumpresserei der Margarethenhütte. © Förderverein Margarethenhütte Großdubrau e.V

Pegida? Gewalt gegen Fremde? Die Ursachen dafür stecken in der Nachwendezeit, in Trauma-Erfahrungen vieler Ostdeutscher, sagt Sachsens Integrationsministerin Köpping - und macht ein großes Fass auf.

Großdubrau. Ein altes Foto an der Wand, ehemalige Kollegen stehen vor dem Werk. Leonhard Jünger betrachtet es genau, sein Finger fährt von einem zum anderen. „Der ist tot, der auch, der lebt auch nicht mehr, die beiden hier auch nicht, der noch, der ja. Aber viele sind es nicht.“ Das Foto hängt in den Resten der Margarethenhütte, einem alten Ziegelbau, von Efeu überwachsen, in Großdubrau bei Bautzen. Heute ist es ein Museum, aber Jahrzehnte lang war der Ort eine bedeutende Fabrik für Elektroporzellan wie Isolatoren für Telefon- und Stromleitungen. Die Geschichte war ruhmreich und geht weit zurück: Als Frankfurt 1891 erstmals Strom aus dem 176 Kilometer entfernten Lauffen am Neckar bekam, funktionierte das nur mit Isolatortechnik aus dem kleinen Großdubrau.

Leonhard Jünger ist 78 Jahre alt, ein hagerer, freundlicher Mann. Von 1963 bis 1991 hat er in der Margarethenhütte gearbeitet. Zum Schluss als technischer Direktor. „Wir hatten Spitzenqualität und Spitzenprodukte“, sagt er. „Wir haben weltweit verkauft. Und dann sagte man uns, der Betrieb sei marode, müsse abgewickelt werden.“ 1991 war das. Jünger verlor seine Stelle, ebenso seine Frau und sein Sohn. Er schrieb damals die Listen der zu Entlassenden. Danach „Durchwursteln“: Biosphärenreservat, ABM, ein Lehrgang, dies und das, Frühverrentung. Heute kümmert er sich um das Museum.

Es ist Sonntag, brütend heiß, Besuch ist gekommen. Es ist der 26. Jahrestag der Besetzung. Einer gescheiterten Besetzung, muss man sagen. Damals, 1991, ging alles den Bach runter, kein Investor sprang dauerhaft ein, es ging schnell, 850 Leute verloren ihre Arbeit, einige besetzen das Werk, um den Abtransport der Maschinen zu verhindern. Es sollte nichts nützen. Abwicklung, Demontage, Sprengung der Öfen und Hallen, 1995 war fast alles weg.

Erinnerungen. 30 Gäste sind da, darunter neun Ehemalige. Sie sitzen geduldig auf Holzbänken, sehen einen alten Film aus DDR-Tagen: Ein Rundgang durchs Werk. Ohne Worte, nur das Wummern der Maschinen. Ab und zu ein Lachen und Wiedererkennen. Sie sitzen im ehemaligen Prüfraum, Sachsens Integrationsministerin Petra Köpping (SPD) ist gekommen. „Ende der Sprachlosigkeit“ ist das Treffen 26 Jahre danach benannt. Und weiter: „Man hat uns nicht nur die Arbeit genommen, sondern auch die Würde.“ Regina Bernstein, eine ehemalige Ingenieurin, begrüßt Köpping: „Sie sprechen mir so aus dem Herzen. Hier wurde immer nur über Technisches geredet“, sagt sie. „Heute soll es um Menschen gehen.“

Petra Köpping, 58 Jahre alt, Ministerin in der CDU/SPD-Landesregierung von Sachsen, zuständig für Integration und Gleichstellung, Chefin eines 35-köpfigen Mini-Ministeriums, ist seit einiger Zeit dabei, ein großes Fass aufzumachen. Sie ist auf einer Mission, die offensichtlich den Nerv etlicher Menschen in Ostdeutschland trifft, gleichzeitig aber auch etliche irritiert: Sie will die Nachwendejahre im Osten aufarbeiten, die Zeit des gewaltigen Umbruchs, als Menschen die Freiheit gewonnen hatten, aber vieles andere verloren: Arbeit, das Gefühl der Sicherheit, ihr altes Leben, die Heimat. Sie will sich den Frustrierten widmen, den Verlierern. Eine Generation später hat sie begonnen, ihnen aus dem Herzen zu sprechen.

Sie sitzt nun vor den wenigen Ehemaligen, um sich herum Apparate mit medizinballgroßen Kugeln aus Messing, zwischen denen früher Funken hin- und hersprangen. „Warum mache ich das?“, fängt sie ihren kleinen Vortrag an. Sie berichtet von Pegida in Dresden, von dem, was sie dort erlebte, wenn sie neben den Wütenden stand und fragte, was denn mit ihnen los sei. Von Heidenau, der Wut, dem Hass gegen Fremde. Sie war in Freital und in Clausnitz, als es rund ging. Und immer wieder bei Pegida. Irgendwann habe sie jemand angesprochen, einer der Schimpfenden, und gesagt: „Sie mit Ihren Flüchtlingen. Integriert doch erst einmal uns!“

Da war bei ihr der Groschen gefallen. Seitdem hat die Integrations-Ministerin Köpping neben den Flüchtlingen noch ein großes Thema. Seitdem fährt sie durchs Land und hört den Menschen zu. Es seien immer dieselben Geschichten, sagt sie, große und verdrängte Geschichten von persönlichem Unheil: 1989 die große Euphorie, danach die Realität. Arbeitslos geworden, nichts Neues gefunden, Umschulungen, ABM, am Ende gar nichts. Menschen mussten sich durchschlagen, es war ein Kampf ums Überleben, der keine Zeit zum Nachdenken ließ. Und dann Frust und Wut. Bis heute. Nun kommt, Köpping sei Dank, alles hoch oder heraus. Was auch dringend nötig sei: „Viele im Westen wissen gar nicht, was im Osten passiert ist“, sagt sie. Nicken, warmer Applaus.

Sie erzählt von sich, sie hat das ja selbst alles miterlebt. Kurz vor dem Mauerfall war sie Bürgermeisterin von Großpösna geworden, einer Kleinstadt bei Leipzig. Sie war 30 Jahre alt, hatte vor ein paar Monaten die SED verlassen. Sie verlor ihr Amt, fing danach bei einer Krankenkasse im Außendienst an, hangelte sich durch, schaffte es 1994 zurück ins Rathaus von Großpösna. Sie wurde wieder Bürgermeisterin und später die einzige sächsische SPD-Landrätin, schließlich Landtagsabgeordnete und ab 2014 Ministerin. Sie erinnert sich an Tausende Bergleute, die im Leipziger Land damals über Nacht arbeitslos wurden. Während Kohlearbeiter weinten, erzählt sie, hätten Politiker den Durchbruch im Umweltschutz gefeiert, die saubere Luft, das Ende der Landschaftszerstörung durch Tagebau.

Auch Köpping musste sich durchschlagen, nur schaffte sie es dabei weit nach oben. Wut ist ihr persönliches Thema nicht, bei ihr ist es eher unbändige Arbeitswut. „Ich will keine Schuldigen benennen und keine Vorwürfe erheben“, sagt sie an diesem heißen Sonntagmittag in Großdubrau. „Aber wie gehen wir mit jenen Jahren um? Was machen wir daraus?“ Sie spricht von Frauen, die in der DDR geschieden wurden und heute arm sind. „Hier ist etwas wieder gut zu machen, möglicherweise mit einer Entschädigung. Versprechen kann ich nichts.“ Sie spricht von den Treuhand-Geschichten, die aufgearbeitet werden müssen. „Alle Akten öffnen, rausfinden, was damals passiert ist.“ Sie spricht von den 17 verschiedenen Rentnergruppen in Ostdeutschland. „Ich kann nichts versprechen“, sagt Petra Köpping. „Was ich kann: Dran bleiben.“

Sie trifft den Ton der Leute im Saal. Man ist ihr offensichtlich dankbar. Lutz Mörbe steht auf, will was sagen. Er ist der Bürgermeister, parteilos, wie so viele auf den Dörfern in Ostsachsen. „Meine ganze Familie ist damals nicht mehr zurechtgekommen“, erzählt er. Er erinnert sich, wie sie damals seinen Onkel im Westen anriefen und um Rat fragten. Der Onkel war 1968 geflohen, arbeitete bei Opel und sagte: „Wir haben hier so viel Industrie. Wir brauchen euch nur als Einwohner.“

Sein Dorf hat heute 4200 Einwohner, es gehe wieder bergauf, sagt er, Menschen zögen zu, aber man habe eine ganze Generation verloren, ein schwerer Schlag. „Die Menschen hier wurden betrogen“, sagt der Bürgermeister und dankt der Ministerin „für den Mut, dieses böse Thema aufzunehmen“. Axel Gude steht auf, ein ehemaliger Technologe. 58 Jahre alt, Familie mit drei Kindern. Sobald er spricht, kommen ihm fast die Tränen. „Fällt mir schwer“, sagt er. Gude wurde damals arbeitslos, er wurde psychisch krank, seine Familie wäre fast zerbrochen. Er kümmerte sich, war auf dem Arbeitsamt, nahm jeden Job, Hausmeister, Straßenbau. Er wollte Grundschullehrer werden, nichts. „Meine schöne Vergangenheit im Sozialismus und die Geborgenheit meiner Familie haben mir geholfen“, sagt er.

Plötzlich stehen einige auf und erzählen. Regina Bernstein, die heute das Museum mit leitet: „Mein am tiefsten sitzender Stachel“, berichtet die Ehemalige über eine kleine Begebenheit, die sie nie vergessen sollte. Nämlich wie damals der Tresor mit den Firmengeheimnissen, den Herstellungsverfahren und Rezepturen einfach so mitgenommen wurde. „Der Panzerschrank mit unserem Wissen. In einer Nacht- und Nebelaktion. Warum habe ich denen damals nicht die Reifen zerstochen?“ Das hat sie sich oft gefragt und versteht es bis heute nicht.

Köpping sitzt unter ihnen, hört zu, ist ganz Ohr. Sie verspricht nichts, sie beschimpft niemanden, sie spielt nicht West gegen Ost aus. Dennoch, „nervig“ will sie sein. „Unterstützen sie mich“, ruft sie in die Runde. „Zweifeln sie nicht an der Politik, es gibt solche und solche.“

Es ist ihre Mission: die Menschen, ihre Vergangenheit, der Wunsch zu reden und gehört zu werden. Wohin alles führt, weiß sie vermutlich selbst nicht. In der eigenen Landesregierung, auch in der eigenen Partei, gibt es starke Zweifel. „Sie weckt Erwartungen, die sie gar nicht erfüllen kann“, heißt es in der CDU. „Was will sie erreichen?“ Ministerpräsident Stanislaw Tillich (CDU) soll tief verärgert und einigermaßen beunruhigt über Köppings Wühlen in der Vergangenheit sein.

Natürlich habe es Fehler bei der Wiedervereinigung gegeben, hielt ihr vor einigen Wochen der Görlitzer CDU-Bundestagabgeordnete Michael Kretschmer entgegen. Keine Regierung, weder CDU noch SPD, habe beispielsweise die unzähligen vertrackten Probleme der DDR-Betriebsrenten lösen können. Über Jahre habe sich der Petitionsausschuss des Bundestags damit befasst. Köpping habe in der Sache wenig Ahnung und nehme bewusst in Kauf, Menschen falsche Hoffnungen zu machen. Und dann das Ganze noch mit Pegida zu verknüpfen, sei sehr problematisch, ganz so, als hätten Pegidisten nichts gegen Angela Merkels Flüchtlingspolitik, sondern nur eine „Ostmacke“.

Sie weiß, sie läuft auf dünnem Eis. Aber sie will weiterlaufen. Ein bisschen hat sie schon erreicht. Ein „Gerechtigkeitsfonds“ soll ins SPD-Programm für die Bundestagswahl. Und im Herbst halten Bund und Länder auf ihr Drängen hin in Bremen eine Sonderkonferenz zu Nachwende-Ungerechtigkeiten ab. Die Themen sind immer die gleichen, die Ost-Renten von geschiedenen Frauen, Eisenbahnern, Bergleuten, Krankenschwestern, Physiotherapeuten, Ingenieuren und Leistungssportlern. Rainer Schiemann will etwas sagen.

Er steht auf, stellt sich vor, 20 Jahre im Betrieb, Prüffeldleiter, dann ABM, dann Rente. „Es war ein großer Schlag“, sagt er. „Wir waren gut, wir haben hier Keramikmesser entwickelt, die Bundesrepublik war nach der Sowjetunion zweitgrößter Kunde. Und plötzlich ist alles marode?“ Seine Banknachbarn nicken. Es ist immer noch nicht zu begreifen und wird es wohl nie sein.

„Viele sagen: Ich will nichts mehr davon hören. Viele sind so enttäuscht, da kann man heute nichts mehr korrigieren“, erzählt er von Gesprächen mit ehemaligen Kollegen. Es wäre schon etwas wert, meint der Rentner, wenn man deutschlandweit die Einsicht vermitteln könnte, „wie sehr man den Osten damals vor den Kopf gestoßen hat“. Gleich ist Pause. Draußen zündet jemand den Grill an. Es gibt Würstchen.

Bürgermeister Mürbe meldet sich noch einmal. Er wird grundsätzlich: „Die Leute hier wissen, was geschehen ist: Sie wurden einmal schlimm beschissen“, sagt er. „Die Leute haben hier deshalb ein ganz anderes politisches Bewusstsein als in den alten Bundesländern.“ Das „Highlight“ hier sei es am Wochenende nämlich nicht, shoppen zu gehen wie im Westen, erläutert er. „Hier sitzt man zusammen, Freunde, Familie und Nachbarn und redet miteinander.“

Die Stachel sitzen tief, die Klischees manchmal noch tiefer. Petra Köpping hört einfach zu. Sie muss gleich weiter, draußen wartet ihr Fahrer, der nächste Termin. „Ich kann nichts versprechen“, sagt sie am Schluss in die kleine Runde. „Was ich kann: nicht Ruhe geben.“ Alte Geschichten, böse Erinnerungen. Zuhören, einfach nur zuhören. An diesem Sonntagmittag in Großdubrau reicht das schon für eine Menge warmen Applaus.

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