Als gäbe es den Rest der Welt nicht: Moskau zwischen Ignoranz und Nervosität

In Moskau will kaum jemand an das Leiden der Menschen in der Ukraine glauben. Zugleich wird der eigene Alltag immer absurder – Nervosität kommt auf in der Wohlfühl-Hauptstadt.
Um neun Uhr morgens klingelt das Handy. „Guten Tag, ich habe eine hervorragende Neuigkeit“, plappert eine weibliche Tonbandstimme. „Sie sind Besitzer eines Gutscheins geworden. Der Geschenkgutschein …“ Moskaus Internetgeschäfte nerven weiter mit ihrer gewöhnlichen Telefonreklame. Aber andere Anrufe nehmen inzwischen völlig überraschende Wendungen: „Hallo, wie geht es?“ - „Ich bin nicht mehr da. Und du??“ Der Kollege, mit dem man sich zum Kaffee verabreden wollte, ist vor fünf Tagen nach Belgien ausgereist. Nachdem zwei Polizisten vor seiner Haustür standen, um ihn dringend zu ermahnen, nicht gegen die neuen strafrechtlichen Zensurverbote zu verstoßen.
Eine Freundin, leitende Angestellte in der Moskauer Vertretung eines westeuropäischen Pharmakonzerns, wechselt mitten im Telefonat das Thema: „Und ich bin wohl meinen Job los.“ Ihr Büro mache dicht, über 300 Kolleginnen und Kollegen würden arbeitslos.
Russlands Hauptstadt bemüht sich weiter, so zu tun, als hätte sich nichts geändert
Dreieinhalb Wochen, nachdem die ersten russischen Sprengköpfe krachend in der Ukraine einschlugen, stürzen auch in Moskau immer öfters Schicksale ein. Aber Russlands Hauptstadt bemüht sich weiter, so zu tun, als hätte sich nichts geändert.
Tagsüber leuchtet blassblau und wolkenlos der noch immer frostige Vorfrühlingshimmel auf die Zwölf-Millionen-Stadt herab. Glitzernde Jeeps ziehen in endlosen Reihen über die Lenin-Prachtstraße. Drinnen hören Verkaufsmanager oder Personalchefinnen Led Zeppelin. Oder Radio Kommersant FM, wo eine Politologin beiläufig erklärt, welche Städte und Gebiete, die die Russen meist noch gar nicht erobert haben, die Ukraine bei den Waffenstillstandsverhandlungen wird abgeben müssen. Und draußen auf der Fahrbahn stehen junge Zentralasiaten und verkaufen große Sträuße gelber Tulpen.
Moskau: Metropole mit dem drittgrößten Wohlfühlwert
Moskau, im Januar von einer UN-Studie als die Metropole mit dem drittgrößten Wohlfühlwert eingestuft, tut, was es immer tut. Es tut, als gäbe es den Rest der Welt nicht. Hier nutzen die meisten VPN-Verbindungen ins Netz, sie lesen Telegramkanäle, aber an das Blut und die Tränen der Ukrainer will kaum einer glauben.
Das „Sisters“ an der Marossejka-Straße im Stadtzentrum ist ein Café für emanzipierte Moskauer:innen. Junge, schicke Vokabeln, „Freelancer“, „Projektgruppe“ oder „Start-up“ fliegen durch die Luft. Und sehr oft das Wort „ich“. Draußen auf dem vier Meter breiten Bürgersteig schwimmen hübsche, hochnäsige, amüsierte, mürrische, nachdenkliche oder neugierige Gesichter vorbei – Schmerz sieht man in keinem.
Moskau will leben und fühlen wie vor dem 24. Februar
Aber auch im „Sisters“ gibt es erste schräge, nervöse Klänge: Am Nebentisch haben sich drei Leute niedergelassen, deutlich älter als 40, sie reden über Politik. „Sobjanin kriegt jetzt Druck … Mischustin kriegt auch Druck.“ – „Dima Medwedjew ist Alkoholiker ...“ – „Naryschkin hat sich fast ins Hemd gemacht …“. Sie spotten über den Moskauer Bürgermeister, den Premierminister, über Interimspräsident Medwedew und den Chef des Auslandsgeheimdienstes, die meisten von ihnen potenzielle Nachfolger Wladimir Putins.
Aber irgendwie wirken die Spötter am Nebentisch gehemmt. Keiner riskiert ein Wort über einen Politiker, der am Ende doch würdig sein könnte, Wladimir Putin als Präsident ersetzen zu können. Putins Namen selbst nennen sie nicht, auch nicht das Wort „Ukraine“. Stattdessen erinnert sich einer an Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron und fabuliert: „Ihr wisst ja, dass seine Frau eigentlich ein Mann, ein Transgender ist.“
Moskau will leben und fühlen wie vor dem 24. Februar. Vielerorts gilt als Konsens, dass in der Ukraine alles bald vorbei sein wird, dass die Sanktionen dem weichen Westen selbst viel mehr weh täten als Russland. Und dass sie in ein paar Monaten wieder aufgehoben würden.
Hier und da bricht doch neue Wirklichkeit hervor. Im Supermarkt Pjatjorotschka sind wie am Vortag schon wieder alle Zucker-, Salz- und Nudel-Bestände weggekauft. „Das geht nicht, das ist verboten!“, schimpft eine erboste Käuferin. „Ich rufe die Verbraucheraufsicht an.“
Russlands Staatsfernsehen bearbeitet die Bevölkerung
Das Staatsfernsehen bearbeitet die Russ:innen und ihr Unterbewusstsein bis nach Mitternacht. Heute tritt in der Late-Night-Show des Starpropagandandisten Wladimir Solowjows unter anderem Konstantin Siwkow auf, stellvertretender Präsident der Russischen Akademie für Raketen- und Artilleriewissenschaften.
Er erklärt, dass in der Ukraine alles nach Plan läuft. „Die Aufgabe wird erfüllt werden. Und sie muss vollständig erfüllt werden. Keine Enklaven, keine Zonen, wo dieser Unrat weiter existieren kann.“ Der Professor der Kriegswissenschaften hat ein schmales Gesicht mit etwas verkniffenem Mund. Aber seine Augen leuchten. „Alles muss gesäubert werden, sanitär gesäubert werden, wie die Säuberung von Küchenschaben mit Insektizid.“
Es gibt auch Mitleid in Moskau
Im Schönheitssalon am Prospekt Wernadskogo herrscht Langeweile. Keiner der acht Stühle vor den Spiegeln ist besetzt. Außer dem Mädchen an der Kasse ist nur Scherali, der Tadschike, da.
Der Fernseher läuft, auf dem Bildschirm kauert ein junger Soldat mit Stahlhelm hinter einem Maschinengewehr. „Unsere Kämpfer haben Straßensperren errichtet“, plaudert eine junge Frauenstimme – „Vorne wieder etwas länger?“, will Scherali wissen. Nicken. Der Fernseher brummt weiter: „... kontrollieren sie, um als Zivilisten getarnte Diversanten festzunehmen ...“, dann schaltet jemand aus. „Mir tun die Leute leid“, sagt Scherali finster. „Das Ganze wird lange dauern, und es wird schlecht enden, für alle.“