Alles hängt an Mariupol

Die eingekesselte Stadt könnte in ihren letzten Tagen noch kriegsentscheidend werden.
Mariupol wird fallen. Westliche Fachleute geben der zu Staub geschossenen ukrainischen Hafenstadt noch Tage. Wie viele der jetzt noch vielleicht 160 000 dort verbliebenen Zivilpersonen das überleben werden, wie viele vorher noch rauskommen werden – wie so oft in diesen fünf Wochen Krieg vermag niemand das zu sagen.
Genauso unwägbar scheinen die verbalen Signale, die von Moskau kommen und darauf hindeuten, dass man langsam von den bisherigen Kriegszielen ablassen könnte. Oder schlicht nicht vertrauenswürdig: Wladimir Putin hat beileibe nicht die „Kriegslist“ erst erfunden. Die militärischen Aktivitäten bei Kiew und Tschernihiw „radikal verringern“? Die „erste Phase“ der „speziellen militärischen Operation“ ist vollzogen? Man will sich „auf die Befreiung des Donbass“ konzentrieren? Wie üblich kann das alles so sein. Es muss aber nicht.
Allerdings zeigt es nach allgemeiner Einschätzung, dass der Kreml eine Exit-Strategie sucht, weil ein Durchkommen gegen den ukrainischen Widerstand auch trotz aller Brutalität nicht mehr sicher erscheint. Manche, wie der Militärökonom Marcus Matthias Keupp gegenüber der „Kölnischen Rundschau“ vom Dienstag, warnen angesichts der Wirksamkeit der Sanktionen, dass Russland ein ähnliches wirtschaftliches Schicksal wie die Sowjetunion ereilen könnte: der Kollaps. Nach Keupps Auffassung könne die Ukraine dagegen „noch relativ lange“ durchhalten. Vor allem, wenn Mariupol noch etwas länger hält.
Sollten die Belagerer dort obsiegen, würden schätzungsweise 6000 Mann Kampftruppen frei, schätzte der britische „Guardian“ am Dienstag. Diese 6000 werden an den anderen Frontabschnitten demnach dringend gebraucht. Mutmaßlich ein Sechstel der Einheiten der Invasionsarmee ist inzwischen praktisch kampfunfähig. Und in der östlichen Mitte des Landes, in der Schützengraben-Landschaft des Donbass stehen noch die besten und erfahrensten Einheiten der ukrainischen Armee bereit zum Kampf. Diese „Joint Forces Operation“ (JFO) hat sich in den vergangenen acht Jahren Stellungskrieg von spontanen Milizen zu klar reglementierten Einheiten mit sehr viel Fronterfahrung gewandelt. Erfahrung, die die russischen Wehrdienstleistenden nicht haben. Das erklärt auch, warum Moskau offenbar verstärkt auf die tschetschenischen Hilfstruppen, auf Söldner beispielsweise der Wagner-Truppe und auf syrische Klientel-Soldateska setzt.
Aber auch sie können Moskaus großen Kriegspläne nicht verwirklichen, wenn die JFO und andere Fronten weitere Vorstöße und Einkesselungsversuche verhindern. Nach Einschätzung britischer Fachleute kommt alles darauf an, ob die Ukraine die bisherigen russischen Vorstöße weiter voneinander isolieren kann. Dann würde Moskaus Motor die Puste ausgehen. (mit afp/dpa)