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Algerien rutscht in die Diktatur ab

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Auf den Straßen von Algier ist der Protest einer zurückhaltenden Routine gewichen – vorerst.
Auf den Straßen von Algier ist der Protest einer zurückhaltenden Routine gewichen – vorerst. © afp

Vier Jahre nach den großen Protesten sind Oppositionelle heute massiven Repressionen ausgesetzt. Trotzdem ist das Land gefragter Partner Europas geworden. Von Elisa Rheinheimer.

Der Tag, an dem Ihsane El-Kadi von sechs Polizeibeamten in Zivil abgeholt wurde, war klug gewählt. Es war der 24. Dezember 2022 und in Europa saß die Mehrheit unter dem Weihnachtsbaum und interessierte sich für vieles, aber nicht dafür, dass der Chefredakteur einer der wenigen verbliebenen unabhängigen Medien Algeriens verhaftet wurde. So wie viele weitere vor ihm. Rund 300 Menschenrechtler:innen, Journalist:innen, Anwält:innen und Aktivist:innen sind aufgrund ihrer politischen Einstellung derzeit in Algerien in Haft.

Dabei war die Hoffnung auf Wandel groß gewesen, als die Bevölkerung sich im Februar 2019 erhoben hatte, um gegen den Langzeitherrscher Abdelaziz Bouteflika und für politische Veränderungen zu demonstrieren. Friedlich waren hunderttausende Menschen, darunter viele Frauen, jeden Freitag auf die Straßen gegangen. Die Revolutionsbewegung „Hirak“ war geboren.

Algerien: Immer mehr kritische Stimmen verlassen das Land

Eine Welle der Hoffnung und Zuversicht war durchs Land geschwappt und hatte alle mitgerissen, Jung und Alt, Bauern und Beduinen, Intellektuelle und Student:innen. Bouteflika musste gehen, neuer Präsident wurde Abdelmadjid Tebboune. „Doch unter ihm ist die Lage dramatisch schlimm geworden“, sagt der Politologe Rachid Ouaissa von der Philipps-Universität Marburg. „Jeder Facebook-Post, der kritisch ist gegenüber dem Regime, kann zu einer Verhaftung führen.“ Immer mehr Anwälte und Journalisten, Demokratie-Aktivistinnen und kritisch eingestellte Bürger verlassen das Land. Einer von ihnen ist Said Salhi, ein Verantwortlicher der algerischen Liga für Menschenrechte. Er entschied im Sommer 2022, ins Exil nach Belgien zu gehen.

Mitte Januar wurde nun bekannt, dass seine Organisation, die vor 38 Jahren gegründet wurde und die älteste und bekannteste Menschenrechtsorganisation Algeriens ist, vom Regime aufgelöst wurde. „Mit diesem Schritt haben die Machthaber entschieden, sich auf die Seite der Unrechtsstaaten zu stellen. Das autoritäre Regime gleitet gefährlich in Richtung einer Diktatur“, warnt Salhi.

Dieser Redakteur in Algier darf noch arbeiten. Ob er dabei auch schreiben kann, was er will, steht auf einem anderen Blatt.
Dieser Redakteur in Algier darf noch arbeiten. Ob er dabei auch schreiben kann, was er will, steht auf einem anderen Blatt. © afp

Mit seiner Entscheidung, Algerien den Rücken zu kehren, hat er noch immer zu kämpfen. Ins Exil zu gehen sei für ihn der schwierigste Moment seines Lebens gewesen. „Ich lebe unter internationalem Schutz, mit einem gewissen Schuldgefühl, weil ich Aktivistinnen und Aktivisten zurückgelassen habe, die den Klauen der Repression nicht entkommen konnten. Meine direkten Mitarbeiter werden an der Ausreise gehindert, ihre Pässe wurden konfisziert“, berichtet er. Salhi, der 18 Jahre lang für die Menschenrechtsliga tätig war, muss nun aus der Ferne miterleben, wie sein Lebenswerk zerstört wird. „Am schlimmsten ist es für mich, zuzusehen, wie das Menschenrechtszentrum in Bejaia, das ich selbst eröffnet habe, heute geschlossen und versiegelt ist, dass Organisationen und Hunderte von jungen Menschen dieses Raums der Bildung, der freien Debatte und der Begegnung beraubt werden, dass ein ganzes Werk vor meinen Augen zusammenbricht.“

Algerien, keine zwei Stunden Schifffahrt von Spanien entfernt, ist ein wichtiger Partner Europas in der „Migrationsabwehr“ und ein guter Abnehmer deutscher Rüstungsgüter. Zudem verfügt das Land über große Öl- und Gasvorkommen und ist daher ein gefragter Energielieferant für die Länder der Europäischen Union. Und doch ist der flächenmäßig größte Staat Afrikas in der öffentlichen Wahrnehmung eine große Unbekannte.

Europa braucht Algerien - man wünscht sich grünen Wasserstoff

Das könnte sich bald ändern, denn bedingt durch den Krieg in der Ukraine profitiert das nordafrikanische Land von Europas Bruch mit Russland. Die Bundesregierung will nun auch in puncto nachhaltige Energien stärker mit Algier zusammenarbeiten, etwa im Bereich Wasserstoff, wo es seit 2020 erste Kooperationen gibt. „Mittel- und langfristig hat Algerien (…) ein großes Wasserstoffpotenzial, um auch nach Europa zu exportieren. Deutschland unterstützt daher konkret erste Pilotprojekte im Bereich grüner Wasserstoff sowie die Entwicklung einer Wasserstoffstrategie“, heißt es auf Anfrage der FR aus dem Bundeswirtschaftsministerium. Laut „Tagesspiegel“ wird Wirtschaftsminister Robert Habeck im Frühjahr die Region besuchen.

Ein langjähriger Weggefährte von El-Kadi, dem inhaftierten Chefredakteur von „Radio M“ und der Online-Nachrichtenplattform „Maghreb Emergent“ sieht Deutschland und die EU in der Pflicht. „Europa verurteilt Russland, wenn es die Menschenrechte verletzt, aber nicht Algerien“, empört er sich.

„Die Wahrung der Meinungs- und Pressefreiheit und der Menschenrechte allgemein sollten eine Vorbedingung für Zusammenarbeit sein. Ich bin der Überzeugung, dass das algerische Regime durchaus sensibel auf Kritik von außen reagiert, wenn sich dies auf die wirtschaftliche Kooperation auswirkt“, sagt der Ökonom, der in Algerien lebt und seinen Namen aus Angst vor Repressionen nicht in der Zeitung lesen will.

Diese Auffassung teilt auch Professor Ouaissa von der Uni Marburg. „Von einem grünen Minister fordere und erwarte ich, dass er die desaströse Menschenrechtslage während eines Besuchs bei seinem algerischen Amtskollegen anspricht“, sagt er. Eine Wirtschaftspartnerschaft zwischen Deutschland, Frankreich und Algerien könnte durchaus zukunftsträchtig für alle Seiten sein. Der Kampf der Algerierinnen und Algerier für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit dürfe dabei aber nicht einfach ignoriert werden.

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