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Alexej Nawalny: Keine Angst vor 113 Jahren Straflager

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Von: Stefan Scholl

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Alexey Nawalny
Alexey Nawalny © AFP

Ein Moskauer Gericht verurteilt Kreml-Kritiker Alexej Nawalny zu einer weiteren Haftstrafe

Der Angeklagte trug schwarzen Sträflings-Zwillich, wirkte abgemagert, mangels Sonnenlicht in den vergangenen 14 Monaten war sein blondes Haar dunkel geworden, sein Gesicht sehr blass. Alexej Nawalny schien aus einem Schwarz-Weiß-Film zu kommen. Und dorthin droht er wieder zu verschwinden. Am Dienstag verurteilte ein Moskauer Gericht bei einem Lokaltermin in der Strafanstalt IK-2 des Städtchens Pokrow Nawalny, 45, zu neun Jahren verschärfter Lagerhaft und einer Geldstrafe von umgerechnet 10 400 Euro. Die Anklage hatte 13 Jahre gefordert.

Richterin Margarita Kotowa verlas die Urteilsbegründung mit großer Eile. „Nawalny hat Betrug verübt, das heißt den Diebstahl fremden Eigentums durch Täuschung.“ Die Richterin, so schrieb ein Reporter des Portals Mediasona aus der Haftanstalt, wiederholte wortwörtlich von der Staatsanwaltschaft vorgelegte Texte. Diese hatte Nawalny zur Last gelegt, Spendengeld für die von ihm gegründete Antikorruptionsstiftung FBK entwendet zu haben, um den eigenen Lebensstil, außerdem extremistische Tätigkeiten und Massenunruhen zu finanzieren.

Das Ermittlungskomitee startete das Verfahren im Jahr 2020 mit einer mutmaßlichen Diebstahlbeute von 356 Millionen Rubel. Am Ende blieben davon weniger als 2,7 Millionen Rubel. Umgerechnet gut 23 000 Euro, die Nawalny seit 2011 in sein Luxusleben und extremistische Massenunruhen gesteckt haben soll.

Urteil gegen Alexej Nawalny: „Missachtung des Gerichts“ als Grund

Zudem legte man Nawalny Missachtung des Gerichts während eines Verleumdungsprozesses im vergangenen Jahr vor. Er hatte unter anderem die Richterin als „Obersturmbannführerin“ beschimpft. Der Politiker und Korruptionsbekämpfer war schon im Jahr 2013 im nordrussischen Kirow wegen betrügerischen Diebstahls zu fünf Jahren Bewährung verurteilt worden, 2014 in Moskau noch einmal zu dreieinhalb Jahren auf Bewährung. Obwohl der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte auch dieses Urteil als willkürlich einstufte, schickten die Behörden den nach seiner Vergiftung gerade aus Deutschland zurückgekehrten Nawalny im Januar 2021 wegen angeblicher Verstöße gegen die Bewährungsauflagen für dreieinhalb Jahre in Haft.

Menschenrechtler:innen betrachten alle Prozesse gegen Nawalny als politisch motiviert. Und Iwan Schdanow, emigrierter Gefolgsmann Nawalnys, veröffentlichte die Handynummer eines Beamten der Präsidialverwaltung, mit dem die Richterin laut Mobilfunkdaten in den Sitzungspausen wiederholt telefoniert haben soll. Richterin Kotowa verlas auch die Zeugenaussage Fjodor Goroschankos, eines ehemaligen FBK-Mitarbeiters, allerdings nur seine Zitate aus den Ermittlungsprotokollen. Dass Goroschanko diese Aussagen vor Gericht widerrufen, den Prozess als „absurd“ und „verlogen“ bezeichnet hatte, ließ sie unerwähnt.

„Nawalny droht als Symbolfigur zu verschwinden“

Nawalny hörte dem viereinhalbstündigen Monolog stehend zu, blätterte in Akten, gähnte, lachte zwischendurch. Er hatte in seinem Schlusswort erklärt, man könne ihm auch 113 Jahre Straflager gäben. „Ihr macht mir und solchen wie mir keine Angst.“ Aber nun droht Nawalny nicht nur die Verlegung in ein Hochsicherheits-Lager, also weniger Besuchszeit und Briefe, dafür mehr Karzer als in einer gewöhnlichen Strafkolonie. „Alexej wird es mit denen zu tun bekommen, die schon versucht haben, ihn zu töten“, twittert seine ebenfalls emigrierte Pressesprecherin Kira Jarmysch. „Und nichts wird sie stoppen, es erneut zu versuchen“.

Der Prozess hatte am 15. Februar begonnen, die Medienresonanz wurde schon nach wenigen Tagen vom plötzlichen Schlachtenlärm in der Ukraine übertönt. Am Dienstag kamen etwa hundert Journalist:innen nach Pokrow. „Aber jetzt geschehen so viele schreckliche Dinge, dass Nawalnys Schicksal nicht mehr bestimmend für die öffentliche Debatte ist“, sagte der Gefangenenrechtler Sergei Dawidis.

Nawalny selbst hatte in den vergangenen Wochen über die sozialen Netze wiederholt zu sonntäglichen Straßenprotesten gegen den Ukraine-Feldzug aufgerufen. Angesichts brutaler Massenfestnahmen wagten sich aber an den vergangenen Wochenenden auch in Moskau nur noch wenige Demonstrant:innen auf die Straße. „Nawalny droht auch als Symbolfigur aus dem öffentlichen Bewusstsein zu verschwinden“, vermutet der Politologe Juri Korgonjuk.

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