20 Jahre „Agenda 2010“: Wie Schröders Reformen die SPD spalteten

Vor 20 Jahren kündigte Gerhard Schröder die „Agenda 2010“ an. Aus dem Streit darüber wuchs eine linke Konkurrenz für die Partei – und deren programmatische Neuaufstellung.
Für manche ist sie der Sündenfall der SPD, für andere wurde sie zum Sündenbock: Zwanzig Jahre nach der umfassenden Arbeitsmarkt- und Sozialreform unter Kanzler Gerhard Schröder hallt die „Agenda 2010“ noch immer in der SPD nach. Das Konzept, das Schröder in einer Regierungserklärung im Frühjahr 2003 im Bundestag ankündigte, sollte dem schwierigen Arbeitsmarkt in Deutschland mit damals über fünf Millionen Arbeitslosen auf die Beine helfen und der durch Skandale auf sich aufmerksam machenden Arbeitsvermittlung neue Strukturen verpassen.
Die Agenda 2010 hat Deutschland verändert, und sie hat die SPD verändert. Ökonom:innen sind sich einig, dass Schröders Reformen, die der damalige VW-Vorstand Peter Hartz maßgeblich entworfen hatte, im Zusammenspiel mit einer günstigen Konjunktur die Wirtschaft kräftig anschoben. Sie bewirkten gleichzeitig, dass sich die soziale Spaltung in Deutschland zwischen Armen und Reichen verschärfte. Für SPD schließlich bedeutete die Agenda zunächst das Trauma einer aus den eigenen Reihen erwachsenden politischen Konkurrenz. Die hitzige innerparteiliche Debatte führte dazu, dass Schröders erbitterter Gegner Oskar Lafontaine die Partei „WASG“ gründete, die dann mit der PDS zur Partei „Die Linke“ zusammenging.
Politologe: „Agenda 2010“ bewirkte „Öffnung ins Liberale“
Auf der anderen Seite stieß die Agenda aber auch eine inhaltliche Modernisierung der Sozialdemokraten an. „Die Agenda veränderte die SPD, indem sie eine programmatische Öffnung ins Liberale bewirkte“, sagt der Kasseler Politikwissenschaftler Wolfgang Schroeder.
Die Diagnose seines britischen Kollegen Colin Crouch, die Agenda 2010 sei eine Reaktion der SPD auf ihren Niedergang gewesen, habe diesen aber verstärkt, teilt der deutsche Wissenschaftler nicht. „Da wäre ich vorsichtig“, sagt Wolfgang Schroeder. Die Reformen seien getroffen worden, um die deutsche Arbeitsmarktpolitik an die strukturellen Veränderungen der Arbeitswelt anzupassen, die hohe Langzeitarbeitslosigkeit zu bekämpfen, stellt er fest. Und er erinnert daran, dass die Bundesrepublik 2003 international den höchsten Anteil an Langzeitarbeitslosen aufwies. Kanzler Gerhard Schröder habe unter Druck gestanden, nachdem es dem „Bündnis für Arbeit“ von Gewerkschaften und Arbeitgebern nicht gelungen war, den Negativtrend auf dem Arbeitsmarkt aufzuhalten, und das Arbeitsamt mit falschen Daten einen Eklat ausgelöst hatte. „Für die SPD stand im Vordergrund, dass gegengelenkt werden musste“, sagt der Politikwissenschaftler. „Dabei hat sie nicht gesehen, dass sie einer neuen Partei Geburtshilfe leistete.“
„Agenda 2010“: Das Etikett der sozialen Kälte
Die WASG von Lafontaine habe die Agenda 2010 als Beleg dafür hochgehalten, dass die SPD von den Sorgen und Nöten der „kleinen Leute“ abgekoppelt sei, später habe die Linke Hartz IV „skandalisiert“, sagt Schroeder.
Mit dem ihr damals angehängten Etikett der sozialen Kälte, die sie nach der Ära Kohl eigentlich versprochen hatte zu beenden, hadert die SPD teilweise bis heute. CDU-Kanzlerin Angela Merkel, die als Nachfolgerin von Gerhard Schröder die Früchte der Agenda 2010 erntete, spottete 2017: „Die Sozialdemokraten mögen sich bis heute zu dieser Erfolgsgeschichte nicht bekennen. Man hat manchmal den Eindruck, sie schämen sich sogar dafür. Auf jeden Fall verleugnen sie sie.“ Und noch im vergangenen Oktober kündigte Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) im Bundestag das zum Januar 2023 eingeführte „Bürgergeld“ als „größte Sozialreform seit zwanzig Jahren“ – also seit Hartz IV – an. Nicht wenige Sozialdemokraten betrachten das Bürgergeld erleichtert als Abschied von Hartz IV.
„Agenda 2010“: Was hat sich seither verändert?
Dabei hat sich an den zugrunde liegenden Strukturen wenig geändert. Das Bürgergeld sei keine Zäsur, sagt Politikwissenschaftler Schroeder, sondern ein vorläufiger Endpunkt bei der Weiterentwicklung von Hartz IV hin zu einem bürgerfreundlichen, weniger sanktionierenden, sondern mehr fördernden System, das die Rechtsposition der Betroffenen stärkt. Die Erfahrung habe hier zu einem Umdenken geführt: Es solle nun weniger mit Druck gearbeitet werden, im Vordergrund stehe nicht mehr die rasche Vermittlung von Arbeitslosen, sondern die Förderung der individuellen Qualifikation.
Die Grundlagen für das Bürgergeld ausgearbeitet hatte 2019 die damalige SPD-Vorsitzende und Ex-Arbeitsministerin Andrea Nahles, anfangs eine scharfe Kritikerin der Hartz-Reformen, die sie dann aber übernahm.
„Agenda 2010“: Grund für die sinkenden Wahlergebnisse?
Den Haupteffekt der Agenda 2010 auf die programmatische Ausrichtung der SPD sieht Politikwissenschaftler Schroeder allerdings in einem grundsätzlichen Bereich: Sie habe das Arbeitsmarkt- und Gesellschaftsverständnis der Partei modernisiert. Die Sozialdemokraten hätten sich verabschiedet von einer eher paternalistischen Staatsauffassung und hingewendet zu einer aktivierenden Arbeits- und Sozialpolitik. Dabei sei der Staat Ansprechpartner und Unterstützer für den Bürger, eingebettet in eine wechselseitige Verbundenheit und Verantwortung. Schroeder: „Das ist ein anderes Verständnis von Solidarität, mit Rechten und Pflichten. Das sind durchaus liberale Gedanken – wo Freiheit und Engagement gefördert werden sollen, aber nicht neoliberale.“
Ob es die Agenda 2010 ist, die zu sinkenden Wahlergebnissen für die SPD führt, oder ob Veränderungen der Arbeitswelt und der Gesellschaft und somit auch der Wählerschaft dies auslösen – das ist Gegenstand von wissenschaftlichen Kontroversen. Politischer Fakt hingegen ist, dass die SPD trotz allem nach wie vor an Bundes- und Landesregierungen beteiligt ist – während die Linke, die ihre Entstehung zu einem großen Teil dem Agenda-Streit verdankt, um ihre Existenz kämpft.