Afghanistan: Wo die Zukunft der Frauen Willkür ist

Haben Frauen und Mädchen unter den Taliban in Afghanistan noch eine Chance auf Bildung? Eine Reportage aus einem Land, das immer mehr vergesssen wird.
Wer in Chindawol wohnt, muss mal steil himmelwärts steigen, mal geht es in die entgegengesetzte Richtung. Die Lehmhäuschen des Kabuler Stadtteils stapeln sich wie Schuhkartons an einem Berghang über der Altstadt. Chindawol ist ein Ort der Armut, hier leben Tausende, die meist weder lesen noch schreiben können, sich mit einfachsten Arbeiten durchschlagen. Im vergangenen Sommer war Chindawol für manche aber auch ein Ort der Zuversicht.
Hier ließ sich damals beobachten, wie fast täglich zwei Dutzend Mädchen und Frauen aus der Nachbarschaft in einem der Hanghäuser zusammenkamen. Sie hockten sich nebeneinander auf einen Teppich, packten Stifte und Schulhefte aus und blickten erwartungsvoll zu Arezu Abdali, Tochter des Hauses und Ersatz-Lehrerin. Arezu selbst hatte nicht in einer staatlichen Schule Lesen und Schreiben gelernt, sondern in einer Klasse des deutsch-afghanischen Vereins Ofarin, der seit gut zwei Jahrzehnten vor allem Frauen und Kindern aus konservativen Familien eine elementare Schulbildung bietet. Wenn die 18-Jährige vorn an der Tafel die Frauen zum Diktat bat, kicherten sie aufgeregt. Manchen fiel das Schreiben noch schwer. Aber jedes neue Wort bedeutete für sie einen weiteren Schritt in die Freiheit. Der Blick war damals in Chindawol eher himmelwärts gerichtet.

Ein paar Wochen später, Mitte August – die ausländischen Armeen waren hastig abgezogen und die afghanischen Soldaten hatten vielerorts widerstandslos die Waffen gestreckt – nahmen die Taliban Kabul ein. Seitdem ging es für die Frauen in Chindawol, wie im ganzen Land, stetig bergab. Trotz des Versprechens, dass diesmal alles anders laufen würde als während der ersten Talibanherrschaft – 1996 bis 2001 waren Frauen aus dem öffentlichen Leben weitgehend ausgeschlossen. Mädchen war es verboten, die Schulen zu besuchen.
Eigentlich sollte das Schulprogramm „talibankompatibel“ sein
Tatsächlich gingen die neuen, alten Machthaber zunächst weniger repressiv vor. Zunächst gab es kein Burka-Gebot. Studentinnen wurden nicht generell aus den Universitäten verbannt. Grundschülerinnen durften weiterhin den Unterricht besuchen. Von Sekundarschulen allerdings wurden Mädchen ausgeschlossen, von der siebten Klasse bis zum Abitur. Bis auf weiteres, hieß es. Verheerend für ein Land, das ohnehin einer Bildungswüste gleicht. In dem nicht einmal die Hälfte der Bevölkerung lesen und schreiben kann, noch immer zwei Drittel der Frauen Analphabetinnen sind.
Hoffnungsvoll schaute das Land auf den 23. März 2022. Mit Beginn des neuen Schuljahres sollten die Schulen nun auch für Mädchen älterer Jahrgänge, bis zum Abitur, wieder öffnen. Doch kaum waren die Mädchen morgens an den Schulen angekommen, hieß es: Ihr geht jetzt wieder nach Hause. „Eine Posse!“, sagt Peter Schwittek über diese Kehrtwende der Taliban. Sie hatten ihre Entscheidung damit begründet, dass man erst islamkonforme Schuluniformen entwerfen müsse. Schwittek ist Gründer und Leiter des Bildungsvereins Ofarin. Afghanistan ist dem 81-Jährigen zur zweiten Heimat geworden, seitdem er in den 1970er Jahren Mathematikdozent an der Universität Kabul war. Er weiß, welche bitteren Folgen das erneute Schulverbot für Mädchen und Frauen hat. „Zum ersten Mal in meinem Leben überlege ich, aus meinem Heimatland zu fliehen“, sagt Arezu Abdali, die nun nicht mehr in Chindawol unterrichten darf. „Freiheit und das Recht auf Bildung geben dem Leben Sinn. Aber diese Rechte wurden uns genommen.“
Uria Zaid Issah Derwischi, ebenfalls eine Ofarin-Lehrerin in Chindawol, die ihr Alter auf 22 schätzt, sagt, dass manche ihrer Schülerinnen schon außer Landes geflohen seien. Andere Mädchen seien von ihren Eltern zwangsverheiratet worden, darunter auch sehr junge – aus Angst, dass sonst Taliban sie sich zur Frau nehmen würden. „In unserem armen Viertel war Bildung die einzige Hoffnung“, sagt sie. „Diese Hoffnung wurde zerschmettert.“

Vergangenen Juli, als über Kabul die Militärhubschrauber der abrückenden US-Armee knatterten, hatte Peter Schwittek sich noch zuversichtlich gezeigt, dass sein Schulprogramm talibankompatibel sei. Schließlich war die Idee dazu 1998 von liberalen Vertretern der damals herrschenden Taliban an ihn herangetragen worden: Unterricht für Jungen wie Mädchen. In Moscheen, da Schulen ja für Frauen tabu waren. Lesen, Schreiben, Mathe, Koran. Das Schulexperiment entwickelte sich so erfolgreich, dass es über das Ende der Taliban-Ära 2001 hinaus weitergeführt und auf Privathäuser ausgeweitet wurde. Mehr als 3000 Schülerinnen und Schüler besuchten die Ofarin-Klassen im Sommer 2021, nicht nur in Kabul, auch in einigen Provinzen, viele aus bildungsfernsten Familien. Bis zur Machtübernahme der Taliban.
Mitglieder von Ofarin sprachen in den vergangenen Monaten immer wieder beim Ministerium für Religiöse Angelegenheiten vor. Dort sei die Verunsicherung groß gewesen: Unterricht für Mädchen in Privatwohnungen – und Moscheen? Ganz schwierig! Wohnungen entziehen sich der staatlichen Kontrolle; Moscheen könnten durch Schülerinnen und Lehrerinnen „verunreinigt“ werden. Erst dieser Tage ließen sich erste Taliban-Gesandtschaften zu Ofarin-Ortsbegehungen bewegen. Ein Hoffnungszeichen, immerhin.
„Insgesamt hat man zwar den Eindruck: Diese Taliban-Generation ist nicht so grob wie die frühere“, sagt Schwittek. „Aber sie hat oft keine Ahnung, was sie mit ihrer neuen Macht anstellen soll.“ Es gebe ein großes Kompetenzvakuum. Hinzu kommt: Die Führung ist in sich zerstritten. Der Fundamentalisten-Flügel ist strikt gegen Mädchen in Schulen. Die Gemäßigteren sprechen sich für Frauenbildung aus.
Und so setzten fern der Hauptstadt unter der Schirmherrschaft der lokalen Taliban-Führer so manche weiterführenden Mädchenschulen ihren Betrieb fort, obwohl der Unterricht ab Klasse sieben für Mädchen zwischen August und März eigentlich verboten war. „Was in der Provinz los ist, ist eh eine andere Sache“, sagt Schwittek – und meint damit: In einer ethnisch und sprachlich heterogenen, von Stammes- und Familienzugehörigkeiten geprägten Gesellschaft wie Afghanistan kann man nicht bis ins hinterste Tal des Hindukusch hinein durchregieren. Ein paar der Bildungsinseln für Mädchen, die bis heute fortbestehen, liegen in den Bergprovinzen östlich von Kabul. Dort, wo die Kinderhilfe Afghanistan von Reinhard Erös und seiner Familie schon seit den 1990er Jahren tätig ist. „Drei unserer Sekundarschulen unterrichten weiterhin Mädchen“, sagt Erös am Telefon. „Die laufen problemlos weiter, auch nach der jüngsten Taliban-Entscheidung.“ Und das Gros der anderen Schulen sei von der Entscheidung nicht tangiert: „Das sind Grundschulen, draußen in den Dörfern. Die gehen ohnehin nur bis zur sechsten Klasse.“
Insgesamt hat Erös’ Organisation rund 30 Schulen für mehrere Zehntausend Schülerinnen und Schüler aufgebaut – meist im Wortsinne, von der Grundsteinlegung bis zum Unterrichtsbetrieb, unterstützt von afghanischen Mitstreitern und finanziert durch deutsche Privatspenden.
Wie hat er es geschafft, dass in drei Sekundarschulen weiterhin Mädchen unterrichtet werden? Alle drei seien reine Mädchenschulen, sagt Erös, ausschließlich Lehrerinnen würden dort unterrichten. Der einzige Mann, „so ein alter Jockel“, stehe auf dem Wachposten, draußen, vor der Mauer. Die Mauer: zweieinhalb Meter hoch!
Die Geschlechtertrennung erfordert Ärztinnen
Das Allerwichtigste aber, sagt Erös, seien persönliche Vertrauensverhältnisse. Alle Schulen seien gemeinsam mit den „örtlichen Honoratioren“ und den religiösen Führern gegründet worden. Zudem telefoniere man täglich mit dem Erziehungsministerium der Provinz. Erös Vorteil: Er kann auf lange bestehende Kontakte aufbauen, an vielen Stellen des Landes. In den 1980ern hatte der Oberstarzt der Bundeswehr sich für vier Jahre beurlauben lassen, um die Bewohnerinnen und Bewohner der ostafghanischen Bergdörfer zu versorgen, als sie gegen die sowjetischen Besatzer kämpften – ein lebensgefährlicher Einsatz. 2002 quittierte er seinen Bundeswehrdienst endgültig. Fortan wollte er den liebgewonnenen Menschen im Osten Afghanistans dienen. „Die afghanische Kultur ist keine sachbezogene, keine funktionsbezogene Kultur“, sagt Erös. „Alles hier funktioniert über direkte Beziehungen zu Personen.“ Das alles Entscheidende sei gegenseitiges Vertrauen, aufgebaut über Jahrzehnte. „Damit habe ich ganz andere Möglichkeiten.“ Bei den drei bisher unbehelligten Sekundarschulen hatte Erös außerdem das Glück, vor Ort mit gemäßigten Vertretern der Taliban zusammenarbeiten zu können.
Es sei unerträglich, dass es zur Glückssache geworden sei, wo Mädchen weiterführende Schulen besuchen dürfen und wo nicht, sagt Nadia Nashir-Karim. „Bei den Taliban sagt der eine hü, der andere hott, einfach willkürlich – und die Leidtragenden sind wir Frauen.“ Nashir-Karim ist Vorsitzende des Afghanischen Frauenvereins, der vor 30 Jahren in Deutschland von Migrantinnen gegründet wurde und inzwischen fünf Schulen mit über 4000 Schülerinnen und Schülern in drei Provinzen betreibt. An zweien davon, in den Provinzen Ghazni und Kabul, sind ältere Mädchen derzeit vom Unterricht ausgeschlossen.

„Man hört viele Stimmen innerhalb der Taliban, die sagen, dass die Rücknahme der Schulerlaubnis durch das Ministerium ein Fehler war“, sagt Nashir-Karim. Und diese Leute hätten recht, fügt sie hinzu, denn die Bestrebungen, Frauen von der Bildung auszuschließen, seien nicht einmal innerhalb der Taliban-Logik mit dem Gebot der strikten Geschlechtertrennung zu Ende gedacht: „50 Prozent der afghanischen Bevölkerung sind weiblich. Also brauchen wir Ärztinnen, die Frauen untersuchen können. Und um diese auszubilden, brauchen wir Lehrerinnen und Universitätsdozentinnen.“
Der Afghanische Frauenverein hat sich nun Maßnahmen überlegt für die arbeitslos gewordenen Lehrerinnen und für die verbannten Schülerinnen. Die Mädchen werden, ähnlich wie in der Corona-Pandemie, mit Homeschooling-Materialien unterrichtet. Und ihre Lehrerinnen gehen nun vorerst in die unteren Jahrgänge, die dafür aufgeteilt wurden. Kleinere Klassen helfen den Kindern und schaffen Arbeitsplätze.
Dass die Lehrerinnen weiter beschäftigt und bezahlt werden, ist dem Verein wichtig. Afghanistan ächzt unter Arbeitslosigkeit und Armut, seitdem die Taliban an der Macht sind – und die Länder der Nato und ihre Verbündeten Sanktionen verhängt und die afghanischen Zentralbankreserven eingefroren haben. „Das ist eine Katastrophe für die Bevölkerung“, sagt Nashir-Karim. Wobei sie es für richtig hält, die Wiederaufnahme von Hilfszahlungen an die Einhaltung von Menschenrechten zu knüpfen. Allerdings gehe den allermeisten Familien nun das Geld für Essen, Miete und Medikamente aus. Und erst recht für Privatschulen, die eine Alternative zu den oft hoffnungslos überfüllten staatlichen Schulen sind.
Aktuelle Lage
Die Taliban haben ein Gebot erlassen, nachdem es Frauen nicht mehr erlaubt ist, sich ohne Gesichtsschleier in der Öffentlichkeit aufzuhalten.
Einige afghanische Frauen demonstrierten gegen diesen und andere Erlässe des Regimes, doch viele wurden geschlagen oder verhaftet.
Die Regelung gilt auch für Journalistinnen im afghanischen Fernsehen. Einige männliche Journalisten tragen Masken zur Gesichtsbedeckung, um Solidarität zu ihren Kolleginnen zu zeigen. Die Kampagne läuft in den Sozialen Medien unter dem Titel #FreeHerFace.
Die radikalislamische Regierung hat eine ganze Reihe von Gesetzen erlassen, die die Rechte von Frauen massiv einschränken. So dürfen afghanische Frauen nicht mehr ohne männliche Begleitung reisen, in Bereichen abseits der Gesundheitsversorgung oder Bildung arbeiten oder eine weiterführende Schule besuchen.
Zeitenspiegel-Reporter Markus Wanzeck hat im Juli 2021 aus Afghanistan berichtet. Damals stellte er im Zuge der FR-Serie „Wie Bildung Leben verändert“ bereits die Arbeit des Vereins Ofarin vor. Mit der Machtübernahme der Taliban im August 2021 ist es für Ofarin und andere Vereine höchst schwierig geworden, ihre Arbeit fortzusetzen.
Unter www.fr.de/bildung_leben finden Sie die Geschichte über „Die fliegenden Klassenzimmer“ und weitere Reportagen aus der Bildungsserie. FR
Internationale Sanktionen, versiegende Schulgelder, dazu Lehrkräfte, die ins Ausland geflohen sind – das afghanische Bildungssystem stehe vor dem endgültigen Kollaps, warnte Unicef kürzlich. Millionen von Kindern hätten keinen Zugang zu Bildung mehr. Die noch offenen gebührenfreien Schulen wie die des Afghanischen Frauenvereins werden deshalb überrannt. „Unsere Grundschule in Kabul hatte zum Schuljahresbeginn eine Kapazität für 1100 Kinder“, erzählt Nashir-Karim. „Zum ersten Schultag kamen mehr als 2000!“ Sie wiesen die Kinder nicht ab, sondern mieteten ein Nebengebäude an und stellten zwei Dutzend neue Lehrerinnen und Lehrer ein.
Die Mädchen-Berufsschule, die die Afghanische Kinderhilfe Deutschland (AKHD) im Großraum Kabul betreibt, hat viel mehr Bewerberinnen, als sie aufnehmen kann, sagt ihr Vorsitzender Naim Ziayee. „Im Moment haben wir 400 Schülerinnen, die Computer- und Englischkurse, Näh- und Stickkurse besuchen.“ Doch es gebe so viele Anfragen, dass sie die Größe der Schule ohne weiteres verdreifachen könnten.
Unter der internationalen Sanktionierung des Taliban-Regimes, darin sind sich die deutsch-afghanischen Bildungsinitiativen einig, leide vor allem die einfache Bevölkerung. Unterdrückung, Arbeitslosigkeit, Hunger – und für viele Mädchen geplatzte Zukunftshoffnungen. Für die einfachen Menschen in Afghanistan, sagt Ziayee, sei dies eine schwer zu ertragende Zeit. Viele stünden vor dem Nichts. Er habe schon davon gehört, dass junge Frauen nach dem Schulverbot ihrem Leben ein Ende gesetzt haben. Die Talibanführer hingegen würden durch die internationalen Sanktionen kaum tangiert. Ebensowenig wie durch die von ihnen selbst verhängten Verbote. Viele von ihnen haben ihre Familie im Ausland, erzählt Ziayee. Dort schicken sie ihre Töchter auf Schulen und Universitäten. (Markus Wanzeck)