AfD: „Ein Zombie, der immer wieder aufsteht“

Die AfD wird zehn Jahre alt – und hat sich fest in der Parteienlandschaft etabliert. Wie konnte das geschehen? Eine Analyse von Martin Benninghoff.
Frankfurt - Jörn Kruse hat sie fast alle durch: Der 74 Jahre alte Wirtschaftsprofessor im Ruhestand war erst Jungsozialist, in der SPD, dann der CDU, den Freien Wählern, die FDP hat er gewählt, von 2013 an war er schließlich Mitglied der Alternative für Deutschland (AfD) und Vorsitzender der Fraktion in der Hamburgischen Bürgerschaft. Doch 2018 trat der gebürtige Schleswig-Holsteiner entnervt wieder aus.
„Die AfD ist langsam aber sicher nach rechts abgerutscht“, sagt er. Die Partei habe sich in die völlig falsche Richtung entwickelt, von der Euro-Kritik hin zu einer rechtsradikalen Gruppierung, die ihre Politik gegen Menschen mit Migrationsgeschichte und Minderheiten ausrichtet. Kruse, der sich liberal und konservativ nennt, ist vor wenigen Monaten wieder der CDU beigetreten. Die AfD sei für ihn heute irrelevant und inakzeptabel.
10 Jahre AfD: Hauptsächlich Männer gründen die Partei in Oberursel
Das war einmal anders, und so erging es vielen aus der Anfangszeit. Als die AfD am 6. Februar 2013 im hessischen Oberursel gegründet worden ist, waren es meist Akademiker, vornehmlich Männer, die ihr Bild prägen sollten. Rechtskonservative wie der frühere „FAZ“-Feuilletonist Konrad Adam, der immer noch in Oberursel am Waldrand wohnt und der seinerzeit den Gründungsraum gemietet hatte, frühere CDU-Mitglieder wie Alexander Gauland oder Bernd Lucke, Professoren, Juristinnen, Publizisten, mehrheitlich im gesetzten Alter.
In den zehn Jahren ihres Bestehens hat die Partei seither fast alles durchexerziert, was typisch für Neugründungen ist. Nach anfänglichen Hypes und Zwischenhochs stand die AfD mehrfach vor ihrer Spaltung. Doch sie ist noch da, und mehr noch: Sie hat sich gegen alle Widerstände der anderen Parteien und der Zivilgesellschaft in der deutschen Politik etabliert. Man muss es so sagen: Die AfD ist die erfolgreichste Gründung einer Partei seit den Grünen. Möglich, dass ihr Aufstieg nicht am Ende ist – und sie auf Landesebene bald Regierungsverantwortung übernimmt.
AFD: Die „Partei des rechten Wutbürgers“
„Die AfD wurde schon oft totgesagt“, sagt der Rechtsextremismus-Forscher Alexander Häusler von der Hochschule Düsseldorf, der sich seit den Anfängen mit der Partei beschäftigt. Sie sei ein „politischer Zombie, der immer wieder aufsteht“. Heute sei sie die „Partei des rechten Wutbürgers“, noch immer mehrheitlich männlich, mit knapp 30 000 Mitgliedern bundesweit, üppig ausgestattet durch die Mittel der Parteienfinanzierung: Die AfD sitzt in 15 von 16 Länderparlamenten und mit einer 78 Köpfe starken Fraktion im Bundestag. In bundesweiten Umfragen erreicht sie zwischen zwölf und 15 Prozent, was deutlich über dem letzten Bundestagswahlergebnis von 10,3 Prozent 2021 liegt. Die Rechtspopulist:innen sind gekommen, um zu bleiben. Damit ist umzugehen.
Besonders stimmenstark ist die AfD im Osten Deutschlands. In Thüringen, wo der Rechtsextremist und frühere Lehrer Björn Höcke die Fraktion im Landtag führt, ist sie in Umfragen stärkste Kraft noch vor der Linken von Ministerpräsident Bodo Ramelow. In manchen Landstrichen ist sie Quasi-Volkspartei, vor wenigen Tagen hat ein Ehrenamtler mit AfD-Parteibuch die Bürgermeisterwahl in einem kleinen thüringischen Dorf gewonnen. Nicht auszuschließen, dass die AfD bald Landtagswahlen gewinnt, wenn in Brandenburg, Sachsen und Thüringen 2024 die nächsten Urnengänge anstehen.
Im Westen tut sich die Partei schwerer. In Schleswig-Holstein verpasste sie 2022 den Wiedereinzug in den Landtag, wobei das nicht heißen muss, dass die AfD hier kein Comeback schaffen kann. Nach Jahren des innerparteilichen Chaos ist die AfD organisatorisch und finanziell ihren schludrigen Anfängen entwachsen – und verfügt über stabile Organisationsapparate. Rechtsextremismus-Forscher Häusler vergleicht die AfD mit einem Chamäleon, das seine Farben der jeweiligen Umgebung anpassen könne. Mal moderater, mal schärfer, mal „bürgerlicher“, mal offen rechtsextrem.
AFD: Seit der Gründung immer weiter offen für den rechten Rand
Die AfD ist – strategisch, nicht moralisch gesehen – cleverer als frühere Rechtsparteien wie die fast marginalisierte NPD oder die aufgelöste DVU, was mit der heterogenen Vergangenheit und der für eine Neugründung ungewöhnlichen Erfahrung im Politikmanagement zu tun hat. Ursprünglich entstammt sie nicht dem organisierten „Glatzen“-Rechtsextremismus, sondern wirtschaftsliberalen und nationalkonservativen Milieus, dem bildungsbürgerlichen Biedermeier im Tweed-Sakko. Heute ist sie klar rechtspopulistisch und in Teilen rechtsextrem.
Dieser Rechtsruck ist umso erstaunlicher, wenn man bedenkt, dass rechtsextreme Parteien wie die postfaschistischen Fratelli d’Italia der italienischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni die umgekehrte Strategie verfolgen: In absehbarer Regierungsverantwortung erscheinen sie moderater und gemäßigter als in früheren Tagen - eine Verschleierung. Eine ähnliche Strategie verfolgt in Frankreich – mit einigem Erfolg – Marine Le Pen mit ihrem Rassemblement National oder die FPÖ in Österreich, für die deutsche AfD so etwas wie Mussolini für Hitler: ein Vorbild und frühes Idol. In Deutschland hingegen rückt die AfD seit ihrer Gründung 2013 immer weiter an den rechten Rand und darüber hinaus, sowohl programmatisch als auch personell.
AFD: Die Gründergeneration hat die Partei verlassen
Die Liste der auf der Strecke gebliebenen Ex-Sympathisant:innen ist prominent besetzt und vor allem lang: Sie reicht von Parteigründer Bernd Lucke über Ex-Wirtschaftsboss und Jazzliebhaber Hans-Olaf Henkel bis hin zu den früheren Vorsitzenden Frauke Petry und Jörg Meuthen. Sie alle wurden von ihren Nachfolgerinnen und Nachfolgern rechts überholt und dann aus der Partei verdrängt. Anders ausgedrückt: Sie wurden von den Geistern, die sie selbst gerufen hatten, aus dem Haus gejagt. So ist es Lucke ergangen, der von Petry entthront wurde – und Jörg Meuthen, der im Januar 2022 entnervt im Machtkampf mit dem rechtextremistischen, mittlerweile offiziell aufgelösten „Flügel“ von Höcke hinwarf. Lucke und Petry gründeten neue Kleinstparteien und verschwanden in der politischen Versenkung ebenso wie Meuthen, der der (heute) unwichtigen Zentrumspartei beitrat.
Für den sich distinguiert gebenden Liberalkonservativen Jörn Kruse war der Essener Parteitag 2015 der Haarriss, der drei Jahre später zum Bruch mit der AfD führen sollte. An dem Tag wurde Lucke abgewählt und übel angefeindet: „Das Benehmen der Teilnehmer hat mich massiv gestört“, sagt Kruse. „Ein Pöbel, wie ich ihn noch nicht kannte.“ Harsche Rhetorik, Buhrufe, gnadenloses Gezerre um Posten in einer Partei, die ja laut Selbstverständnis ganz anders sein wollte als die „Altparteien“, ein politischer Kampfbegriff, den auch die Gründerinnen und Gründer der Grünen einst im Mund führten. Kruse blieb der AfD zwar noch trotzig treu, aber er entfremdete sich zusehends: „Wegen ein paar Idioten aus dem Osten trete ich nicht aus“, habe er damals sich gesagt.
AfD: Rechtsdrall der Partei
Dass die Rädelsführer des rechten Blocks wie Höcke zum Teil aus dem Westen kamen, sei dahingestellt. Kruse wirft sich vor, generell nicht verhindert zu haben, dass immer mehr Leute vom ultra-rechten Rand in die Partei eingetreten sind, zum Teil aus Kleinstparteien wie „Die Freiheit“, die sich faktisch zugunsten der AfD aufgelöst hat. Kruse und andere damals in der Öffentlichkeit als honorig geltende Akademiker bearbeiteten den früheren Manager Hans-Olaf Henkel, der Partei beizutreten. Ein weiteres Feigenblatt. Er, der für die AfD später ins EU-Parlament einzog, sagte im Rückblick, er habe die Bedrohung von rechts unterschätzt und „ein Monster“ erschaffen. Kruse sieht es ähnlich, von den Kritiker:innen der damaligen Euro-Rettungspolitik ist kaum noch jemand dabei.
Mit dem Abtritt Luckes verschob sich die thematische Agenda der AfD. Von Euro-Kritik und der Kritik an den Rettungsschirmen war zwar noch hier und da zu hören, der programmatische Schwerpunkt rückte aber mit Slogans wie „Mehr Kinder statt Masseneinwanderung“ und „Der Islam gehört nicht zu Deutschland“ klar in migrationsfeindliche Gefilde weit nach rechts. Die Debatte um das Narrativ eines angeblichen „Kontrollverlusts“ in der Hochzeit der Geflüchtetenzahlen 2015 und 2016 boten den „Resonanzraum“, wie Kruse sagt, für immer schärfere Rhetorik und eine Politik, die sich auch personell widerspiegelte. Die AfD ist seitdem ein politischer Krisengewinnler auf Kosten von Geflüchteten und Schutzbedürftigen.
AfD: Unmut gegen Menschen mit Migrationsgeschichte als AfD-Turbo
Nach Lucke und Petry orchestrierte der Ehrenvorsitzende und ehemalige hessische CDU-Politiker Alexander Gauland einen gnadenlosen Wachstumskurs der Partei nach rechts. Er ließ den thüringischen Fraktionsvorsitzenden Björn Höcke und seine rechtsextremistische Kamarilla schalten und walten – und sah ihn sogar in der Mitte der Partei. Gauland behielt insofern recht, da die AfD massiv nach rechts abgedriftet war und jetzt gegen Menschen mit Migrationsgeschichte agitierte und das Asylrecht beschneiden wollte. Auch ein Werk des Hessen, dessen Radikalisierung ein persönliches Drama ist. 2018 griff der völkisch denkende Gauland die damalige Integrationsbeauftragte Aydan Özoguz an und wollte die türkischstämmige Politikerin „in Anatolien entsorgen“. Ein weiterer Tabubruch im politischen Raum.
Vor allem die unverhohlene Kooperation mit islamhassenden und migrationsfeindlichen Bewegungen wie Pegida nicht zuletzt im Umfeld der Ausschreitungen in Chemnitz 2018, bei denen sich rechtsextreme Gruppen Seite an Seite mit der AfD zeigten, öffnete Kruse die Augen. Da war er schon weit entfremdet von einer Partei, die, wie er sagt, das Familienbild der 50er Jahre („Diskriminierung der Vollzeitmütter stoppen!“) propagierte. „Mir war klargeworden, jetzt muss Schluss sein.“ Die Frage ist nur: Warum hat das so lang gedauert?
AfD: Von Euro-Politik zum Fall für den Verfassungsschutz
Unstrittig ist: Die AfD ist seit 2013 nach rechts gekippt, mittlerweile ist die Partei für den Verfassungsschutz ein Verdachtsfall. Das Damoklesschwert eines Verbotsverfahrens schwebt über der AfD, das kann ihr noch gefährlich werden. Häusler bezeichnet die Partei als „parteipolitisches Dach für rechtsextreme Einstellungen“.
Doch das weit verbreitete Narrativ, dass die Partei in ihren Anfangstagen liberal und nicht rechtspopulistisch gewesen sei, trifft allenfalls für den verengten Blickwinkel von Ökonominnen und Ökonomen zu, die unter „liberal“ vor allem „wirtschaftsliberal“ verstehen. Parteigründer Lucke, wie Kruse ein Uni-Professor, hatte schon früh Zuwanderinnen und Zuwanderer, die dauerhaft in Hartz-IV feststeckten, als „sozialen Bodensatz“ bezeichnet. Auch Kruse erkennt heute auf Nachfrage den Zusammenhang zwischen dieser menschenverachtenden Rhetorik und der Anziehungskraft auf Rechtsradikale, die sich weniger über die Euro-Politik echauffierten als auf Migrantinnen und Migranten schimpften.
AFD: „Welches politische Monster haben sie geschaffen“?
Trotz eines zwischenzeitlichen Absturzes in der Wählergunst profitiert die AfD seit ihrer Gründung von den Krisen oder den zu Krisen erklärten Themen: neben Zuwanderung die Corona-Pandemie oder zuletzt der Ukraine-Krieg. Die Tonalität ist eindeutig: Die Fraktions- und Parteivorsitzende Alice Weidel sagte zuletzt im Deutschlandfunk, es könne nicht sein, dass „der Westen völlig unreflektiert die ukrainischen Maximalforderungen übernimmt“. Ihr Co-Sprecher Tino Chrupalla meint, Russlands Kriegstreiber Wladimir Putin sei kein Kriegsverbrecher. In der Partei soll es bei dem Thema rumoren, aber auch viel Zustimmung geben. Kein Wunder, wenn man bedenkt, dass die AfD abseitige Abgeordnete wie Gunnar Lindemann ins Berliner Abgeordnetenhaus entsendet, der Bilder von sich bei einer Unabhängigkeitsparade im Donbass veröffentlichte.
Mit Chrupalla an der Spitze hat sich auch das alte Klischee der Professorenpartei erledigt – der gelernte Maler- und Lackierer, der früher die CDU gewählt hat, führt die Partei mit Weidel zusammen seit 2022. Seine Co-Sprecherin, nach Ansicht Kruse „früher eine sehr vernünftige Ökonomin“, die heute aber „mit den Wölfen heult“, hofft auf künftige Koalitionen mit der CDU, um mehrheitsfähig zu werden. Die aber wiederum hat 2018 die Zusammenarbeit mit der AfD in einem Beschluss verboten. Auch CDU-Chef Friedrich Merz hat eine „Brandmauer zur AfD“ versprochen.
Sollte dieser Cordon sanitaire nicht halten, befürchtet Forscher Häusler eine „Normalisierung des Rechtsextremismus“ in Deutschland. Dann müssten sich die rechtskonservativen Gründer wie Adam, Lucke, Henkel oder Kruse besonders eindringlich fragen, welches politische „Monster“ oder welchen „Zombie“ sie da geschaffen haben. (Martin Benninghoff)