Äthiopien: Tigray-Kämpfer auf dem Vormarsch - Konflikt mit „extremer Brutalität“

In der Tigray-Region in Äthiopien herrscht seit einem Jahr ein militärischer Konflikt. Bei einer Untersuchung fand die UN Hinweise auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen.
- Anfang November 2020 begann der militärische Konflikt in der Tigray-Region.
- Ministerpräsident Abiy Ahmed will die in der Tigray-Region an der Macht befindliche Volksbefreiungsfront (TPLF) verdrängen.
- In einem Untersuchungsbericht hat die UN schwere Verbrechen auf beiden Seiten festgestellt
Genf - Die UN-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet hat schwere Verbrechen im Konflikt um die äthiopische Unruheregion Tigray angeprangert. „Der Tigray-Konflikt ist von extremer Brutalität geprägt“, erklärte Bachelet am Mittwoch (03.11.2021) anlässlich der Vorstellung eines Untersuchungsberichts zu Menschenrechtsverstößen der Konfliktparteien.
Es seien schwere Verbrechen auf beiden Seiten festgestellt worden. Die meisten davon seien von Streitkräften Äthiopiens und Eritreas, das sich in den Konflikt eingemischt hat, verübt worden, sagte Bachelet. In jüngster Zeit habe es aber vermehrt Berichte über Menschenrechtsverletzungen auch auf der Seite der Tigray-Unabhängigkeitsbewegung gegeben. „Bei einigen könnte es sich um Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit handeln“, sagte Bachelet. Die UN-Menschenrechtskommissarin fordert, dass die für diese Taten Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden müssten.
Äthiopien: Keine Transparenz bei Prozessen in Tigray
Laut Bachelet hätten die äthiopischen Behörden versichert, das gut ein Dutzend Täter bestraft worden seien und gegen weitere rund 20 ermittelt werde. Es gebe aber keine Transparenz bei diesen Prozessen. Wenn die nationalen Behörden nicht in der Lage seien, sämtliche Verstöße zu verfolgen, müsse eine unabhängige Kommission eingerichtet werden, die Beweismaterial für Gerichtsprozesse sammeln könne, so die Menschenrechtskommissarin.

Es habe verstörende Hinweise auf ethnisch begründete Gewalt gegeben, aber nicht genügend Beweismaterial, um von einem Genozid zu sprechen, sagte Bachelet. Die Untersuchung fand gemeinsam mit der äthiopischen Menschenrechtskommission (EHRC) statt. Das Team hatte dadurch Zugang zu großen Teilen der von der Regierung weitgehend abgeriegelten Region Tigray, aber nicht zu allen Teilen.
Äthiopien und Tigray-Konflikt: Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen“
Der Bericht deckt den Zeitraum vom Beginn der Offensive der Regierungstruppen im November 2020 bis zu der von Ministerpräsident Abiy Ahmed verkündeten Waffenruhe im Juni ab. Bei der Untersuchung seien Hinweise auf mögliche „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ und „Kriegsverbrechen“ entdeckt worden, hieß es in dem Bericht. Das Team dokumentierte Tötungen, Folter, sexuelle Gewalt, Gewalt gegen Flüchtlinge und die Vertreibung von Zivilisten. Diese seien offenbar „in unterschiedlichem Maße von allen Konfliktparteien“ verübt worden.
Der militärische Konflikt begann Anfang November 2020, als Ministerpräsident Abiy Ahmed anfing, die in der Tigray-Region an der Macht befindliche Volksbefreiungsfront (TPLF) zu verdrängen. Seit Anfang August weitet sich der Konflikt auf die Nachbarregionen Afar und Amhara aus.
Inzwischen droht sich der Konflikt auch auf den Rest des Landes auszuweiten. Die Regierung in Addis Abeba rief angesichts des Vormarschs der TPLF einen landesweiten Ausnahmezustand aus. Die Hauptstadtbehörden riefen zur Verteidigung von Addis Abeba auf.
Äthiopische Regierunh wehrt sich gegen Vorwürfe
Die Menschenrechtler:innen dokumentierten unter anderem, dass in der von Rebellen gehaltenen Stadt Mekelle Zivilisten durch Beschuss von äthiopischen Streitkräften getötet wurden. Milizen der Tigray-Kämpfer hätten Zivilisten des Amhara-Volkes getötet. Die eritreischen Streitkräfte hätten Zivilisten in Tigray getötet und einmal 600 Männer aus Tigray nackt oder nur mit Unterhose bekleidet durch die Straßen einer Stadt getrieben, um sie zu erniedrigen. Ein 70-jähriger Mann habe berichtet, eritreische Soldatinnen hätten sich über sie mokiert und Fotos gemacht. Auch Tigray-Kämpfer hätten in ihre Gewalt gebrachte äthiopische Soldaten zur Schau gestellt und beleidigt.
Äthiopiens Regierung wehrte sich gegen die Vorwürfe. Es gebe keine faktische Grundlage für die Anschuldigungen des Völkermords oder des Einsatzes von „Hunger als Kriegswaffe“, hieß es in einer Mitteilung. Die Untersuchung bringe keine Beweise, dass die Regierung der Zivilbevölkerung in Tigray vorsätzlich humanitäre Hilfe verweigert habe. Die im Bericht beschriebenen Verstöße und Übergriffe durch Regierungstruppen seien jedoch „beunruhigend und werden ernst genommen“. Die Regierung werde umgehend eine hochrangige Task Force einrichten, um die Vorwürfe zu untersuchen und die Täter vor Gericht zu stellen.
Region Tigray ist weitgehend vom Rest der Welt abgeschnitten
Durch die Kämpfe wurden bislang fast zwei Millionen Menschen vertrieben. Es gibt immer wieder Berichte über Gräueltaten, darunter Massaker und Massenvergewaltigungen. Die Region Tigray ist weitgehend vom Rest der Welt abgeschnitten. Die Versorgungslage gilt als katastrophal, nach UN-Angaben leiden allein in Tigray 400.000 Menschen an Hunger. (sot mit dpa/afp)